[Ibuki Nukui]
Tag 2 - 17: 17 Uhr - Gelände der Schule - Brücke B
Als der Präsident Kim aus seiner Jacke hervorholte, schien die Welt um Ibuki herum zu zerfallen. Alles was sie gerade getan hatte, die Lügen, der Stress, die neuen Feinde die sie sich gemacht hatte, die Tränen, die absichtlich aufgerissenen Wunden der Vergangenheit, alles umsonst.
Darüber hinaus wurde ihr etwas anderes klar. Takeshi hatte diese Diskussion nie führen müssen. Er hatte von Anfang an ein klares Indiz dafür, dass sie mehr als nur der gewöhnliche Raudi auf dem Pausenhof war. Er wollte sie nicht nur für ihre Tat bestrafen, er wollte sie fertigmachen, und das aus keinem anderen Grund als dem Spaß daran, sie fertig zu machen. Er hat bemerkt, dass er hier weit aus mehr Macht hat als vor seinem Tod, und diese Macht will er nun entweder testen oder sich an ihr ergötzen. Es gibt immer Probleme, wenn zwei Personen, die Macht über andere ausüben wollen und daran Spaß haben, aufeinander treffen.
Ibuki war schon drauf und dran sich ihm zu ergeben und nach dem Messer zu greifen als plötzlich der Junge, den sie vorhin noch gewürgt hatte, eingriff.
'Was soll das? Wieso hilfst du mir?' Sie fühlte sich gewaltig vor den Kopf gestoßen, als der Junge, der doch am meisten Grund hatte, sie in die sprichwörtliche offene Klinge laufen zu lassen, ihr anfing aus der Situation zu helfen. Er behauptete, dass sie ihn hätte umbringen können, wenn sie gewollt hätte und auch, dass er eine Reaktion von ihr provoziert hatte, aber auch, dass sie ihn mit Absicht leben ließ, weil er für sie noch von Nutzen war. Sie war verblüfft, wie schnell er die Idee einer durchschnittlichen Moralvorstellung in den Wind schoss und erkannte, dass er für sie nichts weiter war als ein Werkzeug. Wieder meldete sich das Mädchen von vorhin zu Wort, dem sie vor lauter Konzentration auf die Diskussion zwischen ihr und dem Präsidenten, keine Beachtung geschenkt hatte.
Sie war unfassbar dünn, als hätte sie lange Zeit hungern müssen, hatte blonde, armlange Haare, welche ihr bis zum Bauch hingen, mit lilanen und blauen Strähnen durchsetzt, und rundum die Ausstrahlung eines Mauerblümchens, die Aufmerksamkeit suchte. Sie erinnerte Ibuki an sich selbst, als sie mit 14 Jahren ihr Zuhause verlassen hatte, um im Untergrund Tokios die Yakuza zu erforschen. In dieser Zeit aß sie nur sporadisch, wenn überhaupt und schlief nur wenige Stunden am Tag. Ihre Angst, von Menschenhändlern gefangen genommen, in andere Länder verkauft und wohl möglich bei der Überfahrt noch zu verhungern, wahr zu groß als dass sie Nachts hätte beruhigt schlafen können. Tagsüber gab es mehr Zeugen, die eingreifen könnten, auch wenn wahrscheinlich nur sehr wenige es wirklich tun würden.
Dazu musste sie meist großen Abstand vor genau den Leuten nehmen, die sie auszuspionieren versuchte. Nur eine Flasche Alkohol, hätte gereicht sie so abhängig von diesen Leuten zu machen, dass es ihnen vollkommen offen stand, mit ihr anzustellen, was sie wollten. Diese Paranoia in Verbindung mit dem Schlafmangel zerbrach sie und zeichnet ihren Charakter bis heute aus. Traue keinem, außer dir selbst.
Das dürre Mädchen schrie Takeshi beinahe schon an, was ihr selbst auch erst am Schluss auffiel, als sie erschrocken ihren Mund zu hielt, als wolle sie allen weiteren Anschuldigungen den Weg nach draußen versperren. Ibuki war überwältigt und hatte keine Ahnung was sie nun diesen Schülern sagen sollte. Sie hatten keine Ahnung mit wem sie sich einließen oder wen sie hier überhaupt verteidigten. Sie vertrauten ihr oder waren auf ihre Heul-Masche reingefallen. Aber sie halfen ihre, statt sie einfach in dieses sonst so sichere Ende laufen zu lassen. Auch wenn es ihr nicht leicht fiel, doch diesen Beiden war sie noch etwas schuldig, sobald alles hier vorbei war.
Ibuki öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, doch nichts kam heraus. Sie hätte wahrscheinlich diese Arbeit der Beiden ruiniert, hätte sie etwas gesagt. Daher blieb sie stehen, wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und wartete ab, während sie weit aufmerksamer als vorhin diesen Streit verfolgte und bei der nächsten Möglichkeit, die sich ihr bat, alles dran zu setzen die Diskussion in ihrem Interesse zu gewinnen.