[Kenichi Inugami]
Tag 3 – 10:56 Uhr – Gelände der Schule - Gemüsegarten (14) - Agrargebäude
"Es tut mir leid, Kenichi-san, es tut mir leid!"
"Du kannst dich auch nicht entscheiden, oder?", brummte Kenichi, als er die Augen öffnete und Leos Worte das Erste waren, was er wahrnehmen konnte. Dann fuhr er sich mit der Hand über den Bauch, wo ihm bis vor kurzem noch die Eingeweide aus dem Leib gequollen waren.
"Wehe du fängst jetzt an zu flennen. Ich wurde... von einem Lichtschwert aufgespießt und bin anscheinend noch immer am Leben. Dein Geheul ist das Letzte, was ich jetzt hören möchte... Abgesehen davon...", sagte er wobei er den über sich gebeugten Leo mit zusammengekniffenen Augen ansah, "Bist du zu nah!" Dann drückte er ihm mit sanfter, aber nachdrücklicher Gewalt die Hand auf die Brust und schob ihn von sich weg, um sich aufzurichten.
In dem Moment entdeckte er Yukiko, die bei den ersten Lebenszeichen der Beiden aufgesprungen war und sich mit einem erleichterten, aber schüchternen, beinahe ängstlichen Lächeln an seine Seite begeben hatte. Sofort verstummte er und musterte ihr Gesicht. Sie begann derweil unbehaglich ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen zu verlagern. In Kenichis Brust zog sich etwas unbehaglich zusammen. Er wusste nicht so recht, warum sie ihn derartig ansah. Hatte er sie vielleicht während seines beinahe schon trunkenen Zustands eingeschüchtert? Innerhalb weniger Momente hatte er sich gleichermaßen in seinen Gedanken, wie auch in dem Grün ihrer Augen verloren, als sie plötzlich den Blickkontakt abbrach, zu Boden blickte und ihm gleich darauf wieder in die Augen sah. Alles mit einem leichten Zögern behaftet, das nur dem aufmerksamen Beobachter nicht entgangen wäre.
"Ohayô gozaimasu", sagte sie schließlich schüchtern mit erzwungen ruhiger Stimme. Unwillkürlich stahl sich ein breites Grinsen auf Kenichis Lippen. Er schwang seine Beine vom Tisch und prüfte, ob er sie ohne Probleme belasten konnte.
Es war unmöglich. Er hatte einfach nicht denken können. Nie im Leben hätte dieses Mädchen das Zeug dazu Drogen an Schüler weiterzugeben. Zufrieden über die gewohnte Stärke seiner Muskeln stand er auf und erwiderte noch immer grinsend:
"Ohayô, Yuki." Sie wollte etwas erwidern, kam jedoch nicht dazu. Er trat einen Schritt auf sie zu und strich ihr sanft über das Haar, was sie augenblicklich verstummen ließ.
Dann warf Kenichi einen Blick in die Runde und musterte für das erste Mal die Gesichter im Raum. Leo hatte er schon ausreichend begrüßt, weswegen er keine weiteren Worten an ihn richtete. Die erste Person, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog war Ibuki. Nicht wegen ihrem etwas rebellischen Aussehens, sondern eher wegen ihrer Ausstrahlung, die einen weniger friedvollen Charakter versprach. Kenichi hatte seine Dosis an Straßenkämpfen gehabt, um instinktiv sagen zu können, dass sie auf Krawall gebürstet war. Außerdem würde er nicht den Fehler begehen sie zu unterschätzen nur weil sie eine Frau war. Jedoch schob er diese Gedanken erst mal beiseite und wandte sich der letzten unbekannten Person zu. Hayato hatte eine ähnliche Ausstrahlung, was seinen Mundwinkel zucken ließ. Irgendwie gefiel ihm der erste Eindruck von Yukikos Gesellschaft nicht besonders. Als letztes richtete er sich an Rika und nickte ihr anerkennend zu. Für das Drama, das er den beiden zuvor vorgespielt hat würde er sich entschuldigen, wenn sie unter sechs Augen waren. Den beiden anderen wollte er nicht unbedingt etwas so privates auf die Nase binden. Das erinnerte ihn an ein weiteres Gesicht. Als er in der Krankenstation gewesen war, kam ihm beim heraus rennen ein weiterer Kerl entgegen der aussah, als wüsste dieser was die beiden getan hatten. Er hätte beinahe gefragt wo er abgeblieben war, als er die Gestalt am Boden entdeckte. Für einen Moment starrte er ihn nur an, ehe dann sein Mundwinkel angesichts der Konsequenzen, die er sich erdachte, zuckte und sich seine Augenbrauen verwundert hoben. War der Schülerpräsident etwa Amok gelaufen nachdem er ihn aufgespießt hatte? Oder hat es noch andere Zwischenfälle gegeben in dieser Welt, die er bis vor kurzem als Epitom des Friedens verstanden hatte, ohne dass es ihm seltsam vorgekommen war. Aber jetzt hatte er einiges, über das er nachdenken konnte und musste. Daher war er froh, dass seine Gedanken nicht mehr in Ketten gelegt zu sein schienen, wie es vor seinem Tod der Fall gewesen war. Selbst als er sich einmal die Schädeldecke angeknackst hatte, hatte er nicht mal im Ansatz vergleichbare Schmerzen gehabt.
Schließlich schaffte er es seinen Blick von dem leblosen Körper abzuwenden und sah wieder zu Yukiko.
"Also...", begann er, verstummte jedoch sofort als er ihren Gesichtsausdruck sah. Aufgeplusterte Backen, die vor zurückgehaltener Wut zu platzen schienen, ein vor Scham knallrotes Gesicht, Hände die sich in den Saum ihres Rocks krallten und Augen die ihn an eine Katze erinnerte, die ihr Ziel in Form der Hand eines Fremden, der sie zu viel getätschelt hat, erfassten, bereit jeden Moment die Krallen auszufahren und zuzubeißen. Mit einem leisen "hehe" zog er langsam seine Hand zurück, lächelte unschuldig und entschied sich die Reihenfolge dessen, was er sagen wollte, zu ändern:
"Yuki, ist es in Ordnung wenn wir später unter vier Augen reden?"
[Yukiko Sakamato]
Überrascht blinzelte sie, während sie zu Kenichi aufsah. Sie konnte nicht mit dem Finger darauf zeigen, aber er hatte sich verändert. Er war nach wie vor ungehobelt und unverschämt, dafür aber wirkte er ausgesprochen ausgeglichen und kontrolliert. Nicht das seine ungestüme Art verschwunden war, sie war nur nicht mehr so aufdringlich, sondern unter einer Schicht der Ruhe versteckt, die er vorher nicht besessen hatte. Fasziniert und ein wenig überrumpelt brachte sie nur schwaches Nicken zustande.
"Danke dir", sagte er und begann dann von Neuem wobei er sich an alle Anwesenden richtete.
"Also, erstmal meine Name ist Kenichi Inugami, für jene die mich noch nicht kennen. Wenn ihr wollt könnt ihr mich Kenichi nennen." Er machte eine kurze Pause und nickte sowohl Hayato als auch Ibuki kurz zu, ohne jedoch in eine Verbeugung überzugehen.
"Da ist was, das mich brennen interessieren würde. Was zum Teufel ist passiert? Der Kaichou hat mich erstochen und dem Brennen in meinen Eingeweiden zu urteilen bin ich definitiv gestorben. Allerdings habe ich mich selten so gut gefühlt wie im Moment... Habt ihr möglicherweise darauf gewartet, dass ich aufwache." Er deutete auf den leblosen Körper von Yoshino und meinte weiter:
"Den armen Kerl scheint es nach mir erwischt zu haben. Und was hat es mit dieser Versammlung hier auf sich?"
Yukiko war die erste, die zu einer Antwort ansetzte und ihm im Schnelldurchgang davon berichtete, was nach seinem Tod geschehen war, wie Leo getötet worden war und wie sie schlussendlich zu dem Beschluss gekommen sind eine Gruppe gegen den Schülerpräsidenten zu gründen. Dabei ließ sie allerdings die Informationen wie das Passwort für das Büro des Direktors und das Erscheinen des komischen Musik-Verrückten aus, merkte jedoch an, dass es sich nur um einen groben Umriss der Situation handelte.
Am Schluss ihrer Erklärung spannten sich ihre Nerven allerdings noch einmal an, was sich auch in ihrer Stimme als Nervosität niederschlug.
"Ano, würdest du dich uns anschließen? Bis jetzt sind wir noch zu wenige, um diese 'Missionen' auch tatsächlich ausführen zu können."
Dann wandte sie sich hastig an Leo und sagte:
"Das selbe gilt natürlich auch für dich, Leo-kun."
Kenichi nickte verstehend und grinste mit einem angriffslustigen Funkeln in den Augen.
"Natürlich bin ich dabei. Nachdem ich meine Erinnerungen wieder bekommen habe, werde ich mich bestimmt nicht damit zufrieden geben einfach nur stumpf an einem Tisch zu sitzen und langweiligen Lehrern zuzuhören. Insbesondere nicht wenn der Schülerpräsident mich aufgeschlitzt hat! Der wird es noch bereuen mir sein Balmung, oder wie auch immer er sein komisches Lichtschwert genannt hatte, in den Bauch gestoßen zu haben!"
Dann wandte er sich halb Leo zu und sagte herausfordernd:
"Du machst besser auch mit! Ich weiß noch immer nicht was damals in dich gefahren ist, aber wenn du mir zeigen willst, wie ernst es dir ist, beförderst du den Kaichou besser vor mir ins Grab!"
Darauf weiteten sich Yukikos Augen und sie fing an sich über sich selbst zu ärgern. Vielleicht hatte er sich doch nicht sonderlich verändert.