[Yukiko Sakamato]
Tag 3 – 08:52 Uhr – Gelände der Schule - Schulgebäude - Krankenstation
Yukiko verstand die Situation nicht vollständig. Kenichis Schmerzen stammten definitiv nicht nur von dem Zwischenfall mit Natsu.
"Erinnere Dich, Inugami-san!" rief Rika ihn laut an. "Bist du vielleicht deswegen gestorben?"
War es das? War Kenichi tatsächlich gerade im Prozess so zu werden, wie sie selbst und Rika von Anfang an waren? Aber warum war es dann für ihn so unglaublich schmerzhaft?
Nachdem Kenichi Rikas Worte verstanden hatte, weiteten sich seine Augen, während sein Gesicht noch blasser wurde. Er stammelte etwas, viel zu leise, um verständlich zu sein, während sein Blick einen weit entfernten, nicht in dieser liegenden Punkt, zu fixieren versuchte. Deswegen war Yukiko auch stumm geblieben. Sie wusste nicht wo sich seine Gedanken befanden. Sie hatte keine Ahnung wie sie ihm helfen konnte.
Kenichis Kopfschmerzen hatten einen weiteren Höhepunkt erreicht. Im Sekundentakt brandeten Schmerzwellen gegen die Innenwände seines Schädels, die drohten ihn von innen heraus aufzubrechen. Zwischen jeder Welle blitzten weitere Bilder auf, sah er neue Gesichter und in seinen Ohren hörte er deren Stimmen. Plötzlich befand er sich für einen Sekundenbruchteil wieder auf der Straße, in einer dunklen Gasse, wo sich mehrere Leute versammelt hatten. Takeo, Kumiko, Akira, Dai, Sakura, Arata, die Schwestern Etsu und Emi und Kaori. Sie alle sahen auf den Boden, vermieden jeglichen Blickkontakt. Sie vermieden die toten Augen der anderen. Sie hatten alle aufgegeben. Die Welt hatte sie aufgegeben.
"Land der Ungleichheit, mein Arsch...", hörte sich Kenichi selbst knurren, während er zusah, wie sie sich im Schatten eines 14-stöckigen Kaufhauses mit gestreckten Billigdrogen zudröhnten. Sie waren nicht die schlausten. Keiner von ihnen. Ihre Schule hatte einen schlechten Ruf gehabt und selbst wenn sie es geschafft hätten ihren Abschluss zu machen, wären sie nur mit argwöhnischen Blicken angesehen worden. Eine gut bezahlte Arbeit hätte vermutlich keiner von ihnen gefunden, aber sie wären wenigstens über die Runden gekommen ohne ihren Familien Schande zu bringen. Aber soweit sollte es nie kommen. Ein paar Schnösel mit reichen Eltern hatten sich überlegt mit den Armen zu spielen. Sie schlichen sich in ihre Schule und begannen mehr als nur geschmacklose Witze zu reichen. Die Jungen behandelten sie wie Kakerlaken, doch das war nicht der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Kenichi war nicht dabei gewesen, als der Konflikt ausbrach. Einer der Schnösel versuchte Kaori zu kaufen.
"Sie würde später eh nur eine Hure werden. Ich verhelfe ihr nur zu wertvoller Erfahrung", sagte er, während er mit einem 1000 Yen Schein versuchte sie zu locken. Und dann explodierten sie. Es gab eine deftige Schlägerei, in die Kenichi hineinplatzte. Als er seine Freunde sah, lief ihm das Grauen über den Rücken. Er war nicht der Schlauste, aber er begriff die Konsequenzen dieser Situation. Er ging dazwischen und trennte Takeo von dem Schnösel, worauf auch die Prügeleien der anderen endeten. Die Schnösel waren zu einem großen Teil heftig zugerichtet. Trotzdem lächelten sie siegessicher. Außer vielleicht jene, deren Gesicht noch bis heute verstellt sein würde. Sobald die Wut nicht mehr ihre Sinne trübte, erkannten auch die anderen, was sie getan hatten.
"Du hättest uns nicht aufhalten dürfen, Kenichi", hatte Takeo gesagt. Hätte Kenichi gewusst, was all dem folgen würde, hätte er dies mit Sicherheit auch nicht getan.
Am nächsten Tag wurden alle Schüler, die in der Schlägerei verwickelt waren, von der Schule geschmissen. Später stellte sich heraus, dass jener, der Kaori als Hure einstellen wollte, der Sohn eines Politikers war. Es wurde in den Medien als Übergriff neidischer Schulrowdies dargestellt, wobei sich der Anführer als überlegendes menschliches Wesen gab, das aus Mitleid von einer Anklage absehen würde. Aber der Schaden war bereits angerichtet. Keine Schule wollte sie mehr. Lediglich Kenichi blieb verschont.
Aber diesem Zeitpunkt ging es mit seinen ehemaligen Klassenkameraden, Kohais und Senpais bergab. Am Anfang versuchten sie noch sich gegen den Sog der Armut und gegen die Chancenlosigkeit aufzurichten. Doch ihr Kampfgeist starb schnell. Und mit jedem Tag der verstrich, wuchs Kenichis schlechtes Gewissen. Er gab sich dafür die Schuld. Wäre er früher dagewesen, hätte er das alles verhindern können. Oder zumindest hätte er alles auf sich nehmen können und den Typen Mann gegen Mann seine kranken Spiele austreiben können. Aber dafür war es jetzt zu spät. Er versuchte die Gesellschaft der Ausgestoßenen zu halten und ihnen zumindest moralische Unterstützung zu bieten. Aber es half nichts. Sobald er das weiße Pulver das erste Mal gesehen hatte, verstand er das. Ab diesem Moment sah er nur noch zu, wie sie immer weiter abrutschten. Sie bekamen Schwierigkeiten mit der Polizei, die er jedoch durch Falschaussagen abwenden konnte. Er fühlte, dass er ihnen das schuldig war, wenn er sie nicht mit Worten erreichen konnte. Die Zeit war seine einzige Hoffnung... Dass sie irgendwann einsehen würden, dass sie sich nur noch weiter in die Scheiße ritten.
Aber als Kaori an einer Überdosis starb, brach seine Welt zusammen. Sie war seine heimliche Liebe gewesen. Drogen. Kenichi hatte sie zu ihnen getrieben. Die Wut konsumierte seine Vernunft, worauf er Takeo zwang den Namen und den Ort von Kaoris Dealer preiszugeben.
Da riss der Strom der Erinnerungen ab. Kenichi zitterte am ganzen Körper, während seine Kiefer knirschten, als er sie aufeinander mahlte. Langsam hob er seinen Blick und sah langsam von Rika über Kouta hinüber zu Yukiko. Als sich ihre Blicke trafen, zuckte Yukiko unter der Intensität zusammen. Schlagartig wurde ihr klar, dass er es todernst meinte und nicht Ruhe geben würde, bevor er sicher war, dass sie keine Drogen ausgeben würden. Ohne auf Rikas Erlaubnis zu warten, eilte sie zu einer Kiste, entnahm ihr schnell etwas von dem Make Up und näherte sich damit Kenichi. Sie musste sich überwinden ihm näher als ein paar Schritte zu kommen. In ihren Augen wirkte er momentan eher wie ein wildes Tier, das seinen Nachwuchs beschützte, als ein Mensch bei Verstand.
Als sie vor ihm stand, hielt sie ihm die Schminkutensilien hin und erklärte mit gezwungen sanfter Stimme:
"Wir tauschen Kosmetikprodukte und andere Kleinigkeiten gegen Essensmarken ein. Kenichi, wir würden den Schülern niemals etwas antun."
Mit zittrigen Händen, aber ohne jegliche Spur von Kraft, nahm er die Schminke entgegen und prüfte sie auf deren Inhalt. Dann suchte er wieder Yukikos Blick und entgegnete mit krächzender und zugleich erschöpfter Stimme:
"En-entschuldige... Ich hätte euch nie verdächtigen dürfen... Aber es... In meiner Vergangenheit gab es... Bevor ich an diese Schu... Argh", er stöhnte, als eine neue Schmerzwelle seinen Kopf füllte.
"Willst du dich nicht hinsetzen?", fragte Yukiko besorgt.
Und plötzlich lächelte er sie gequält an.
"Entschuldige, Kleine", sagte er, "Aber ich bin ein Scheißkerl."
Mit diesen Worten hievte er sich hoch und stürmte aus der Krankenstation. Yukiko starrte ihn verdattert hinterher. Unter normalen Umständen hätte sie wissen wollen, was er gemeint hatte und wäre ihm hinterher gejagt. Aber als er das gesagt hatte, lag in seinem Blick derart viel Bedauern, Zuneigung und zugleich Hass, dass sie nicht sicher war, ob sie die Bedeutung hinter seinen Worten erfahren wollte. Und zum anderen war sie sich sicher, dass er seine Ruhe wollte und auch brauchte.
Verunsicherte drehte sie sich von der Tür weg und sah Rika entschuldigend an.
"Scheint als wäre er mit dem Eyeliner und dem Puder abgehauen. Tut mir leid, dass ich es ihm gezeigt habe, aber ich glaube es ist besser, wenn er versteht, dass wir keine Drogendealer sind... Aber was bitte ist mit ihm los? Er scheint sich an etwas zu erinnern... Aber warum ist das bei ihm so schmerzvoll? Warum sind wir nicht dadurch gegangen?"