[Kenichi Inugami]
8:53 - Große Treppe am Schulgebäude
Kenichi wollte einfach nur irgendwohin, wo es ruhig war und niemand ihn belästigen würde. Er musste mit diesen Bildern und Erinnerungen fertig werden. Mittlerweile kannte er sich gut genug, um zu wissen, dass er in seinem aktuellen Zustand mehr als nur gefährlich war, denn die Wut in ihm schien nicht abzuflauen. Immer wieder blitzten die Bilder des Schönlings vor seinen Augen auf und so sehr er auch versuchte sie zu verdrängen, ließen sie ihn nicht in Ruhe.
Irgendwann hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich.
"Inugami-san? Ist mit dir alles in Ordnung?"
Zuerst dachte Kenichi, dass ihm sein Geist einen weiteren Streich spielte und er sich die Stimme nur einbildete. Doch als er leicht den Kopf drehte, erkannte er den Schülerpräsidenten. Genervt stöhnte er und erwiderte auf die dumme Frage:
"Kaichou-san, sehe ich so aus, als wäre es das?"
Wieder blitzte eine Erinnerung auf. Er kam gerade dazu, als sich seine Freunde wieder etwas genommen hatten. Sie kicherten und lachten mit glasigen Augen und versicherten ihm, dass alles in Ordnung sei. Dass sie sich noch nie so gut gefühlt hatten endlich von den gesellschaftlichen Pflichten befreit worden zu sein.
Der Schülerpräsident kam besorgt ein paar Schritte näher und schien ihm helfen zu wollen. Doch Kenichi knurrte ihn nur an und stoppte ihn mit einem warnenden Blick.
"Lass mich lieber in Ruhe", presste er unter zusammengebissenen Zähnen hindurch, "Ich stehe gerade unter dem Eindruck, die letzte Zeit in einer Lügenwelt gelebt zu haben. Und ich weiß nicht ob..." Da stutzte er. Das seltsame Verhalten der Lehrer, die nie anwesende Besetzung der Krankenstation, die Schulschwänzer, seine fehlenden Kenntnisse über das Gebiet außerhalb der Schule, der nie anwesende Rektor der Schule... Wenn jemand etwas über all dies wusste, wäre es dann nicht der Schülerpräsident? War er nicht das wahrscheinlichste Bindeglied?
Mit zusammengekniffenen Augen fokussierte er Takeshis Gesicht. Für einige Momente schwieg er und folgten seinen zähflüssigen Gedanken durch seine Schmerzen hindurch. Der Präsident kam wieder ein paar Schritte näher. Er sagte etwas, aber Kenichi hörte gar nicht hin. Ein weiteres Bild hatte sich seiner bemächtigt, das stärker war, als jedes andere zuvor.
Der Dealer ist von ein paar Gorillas beschützt worden, die ihn mehr als nur ein wenig überrascht hatten. Sie waren gut ausgebildet und hätten ihm beinahe die Kehle aufgeschlitzt. Doch er hatte nicht umsonst einen Ruf auf der Straße. Als er die beiden Unterlinge ausgeschaltet hatte, stand der Dealer noch immer an Ort und Stelle. Er lachte und das war der Moment, in dem er ihn wiedererkannte. Dieses Lachen würde er in seinem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Der Dealer war der Schönling, der all seine Freunde in den Ruin getrieben hatte und nun mit einer Pistole auf ihn zielte, während er sich das silbergraue Haar aus dem Gesicht strich.
Wieder wallte Wut in Kenichi auf. Nur konnte er sie diesmal nicht mehr kontrollieren. Mit einer von Takeshi unerwartet schnellen Bewegung packte Kenichi diesen am Kragen und drückte in mit der Kraft eines wilden Tiers gegen die Wand des Treppenaufganges. Der Schülerpräsident war nicht der Dealer. Das war ihm klar, aber trotzdem konnte er sich nicht kontrollieren. Wegen des Größenunterschieds zog Kenichi ihn zu sich herunter, damit sie sich auf Augenhöhe befanden und fixierte seinen Blick. In einer bedrohlich tiefen Stimmlage knurrte er:
"DU bist doch hier der Boss, richtig, Kaichou-san yo... Du kannst mir sicher erklären, warum meine Freunde plötzlich neue Gesichter haben? Warum ich nicht weiß, was sich außerhalb der Schule befindet und warum ich hier bin." Er verstummte kurz, weil sich eine neue Schmerzwelle über ihn ergoss. Dann fuhr er fort, "Und wie komme ich zurück? Wie es aussieht habe ich aus Gründen, die noch gerne erfahren würde, vergessen, dass ich wichtige, unerledigte Dinge zu tun habe. Und Kaichou-san... Besser wäre es, wenn die Erklärungen simpel genug ausfallen würden, damit ich sie jetzt und hier verstehen kann..."