hier der versprochene nächste Teil
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Der weiße Schnee hatte den Wald und die Landschaft in ein traumhaftes Wintermärchen verwandelt. Die Wintersonne, die kaum hinter den dichten Wolken zu sehen war, tauchte alles in ein prächtiges Farbenspiel aus funkelnden Diamanten. Der See war zugefroren und wahrscheinlich hätte man auch gut darauf Schlittschuh laufen können. Doch an so etwas dachte Chiara nicht. Sie hatte sich auf eine Bank im Garten des großen Hauses gesetzt, eine Decke, unter gelegt und in einen dicken Mantel gehüllt. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Gesicht reckte sich den wenigen Strahlen der Sonne entgegen.
Seitdem sie das schöne Haus, dass sie von ihrer Tante geerbt hatte, zerstört war, lebte sie hier. Im Haus von Justin und seiner Familie. Ein paar Habseligkeiten die ihr etwas bedeuteten, hatte sie ein paar Tage später abgeholt und in ihr neues zuhause gebracht. Justin, und auch sein Vater hatten ausdrücklich gesagt, sie solle sich hier wie zu Hause fühlen, konnte sie das Gefühl nicht loswerden, dass hier etwas nicht stimme. Auch fehlte ihr etwas, nur was, das konnte sie nicht sagen. Ihr war, als ob es da noch eine Person gab, sich aber nicht daran erinnern konnte. Immer wenn sie es versuchte, sich versuchte vorzustellen, wie die Person ausgehsehen haben konnte, tauchte nur das Bild von Lisa in ihrem Kopf auf. Doch sie war sich ganz sicher, dass sie nicht die Person war, die ihr als Schatten durch den Kopf geisterte.
„Nein, ich weiß genau, dass ich mir das nicht nur einbilde. Ich weiß, dass es dich gibt. Aber warum kann ich mich nicht an dich erinnern? Bist du eine schlechte oder eine gute Erinnerung, an die ich mich doch nicht erinnern kann?“ Sie flüsterte die Worte und dabei stiegen kleine Wölkchen auf. Sie lehnte sich zurück und spürte die Kälte in ihrem Rücken. Doch für den Augenblick störte sie es nicht, ganz im Gegenteil, die Kälte half ihr einen etwas klareren Kopf zu bekommen. Und für einen kurzen Moment, bekam die Unbekannte, in ihrem Kopf ein Gesicht. Doch bevor sie danach greifen, es festhalten konnte, war es auch schon wieder verschwunden.
Sie stand auf, reckte sich, und ignorierte Sasa, ein Wächter, der für ihre Sicherheit verantwortlich war, wenn Justin gerade unterwegs war, der in der Nähe eines großen, kahlen Baumes stand und die Umgebung betrachtete. Sie sollte die Decke wieder zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und ging zurück ins Haus. Vor dem Abendessen, dass man ihr wieder auf ihr Zimmer bringen würde, wollte sie noch ein schönes heißes Bad nehmen.
Ein wunderbarer Jasmin-Geruch, lag in der Luft, als Chiara das heiße Wasser ausdrehte und sich langsam ins Wasser gleiten ließ. Das Licht im Bad war gedämpft und ein paar Kerzen hatte sie auch noch angezündet. Sie lehnte ihren Kopf nach hinten und starrte an die Decke. Schatten tanzten darüber hinweg und schon nach kurzer Zeit fühlte sich Chiara in ihren Bann gezogen. Ihre Umgebung nahm sie nur am Rande war. Viel zu sehr war ihr Blick auf die Schatten gefesselt. Die Schatten schienen lebendig zu werden: Vampire, Lichtwesen, Menschen, Zerstörung, Trauer und Hoffnungslosigkeit. Aber auch Liebe, Geborgenheit, die Bereitschaft für andere da zu sein, sie zu beschützen und neues Leben.
Als Chiara, im Morgenmantel bekleidet, das Badezimmer verließ, wusste sie, wer die Unbekannte Person war, die in ihrem Geist herumtanzte: Mala!
Wie konnte sie die Person, die so lange Zeit bei ihr gewesen war, seit sie hier nach Amerika gekommen war, nur vergessen? Die Person, die sie hier nicht nur zum Lachen gebracht hatte, sondern die auch dafür gesorgt hatte, dass etwas zu Essen auf dem Tisch stand. Wie konnte sie nur vergessen, wer ihr jeden Morgen einen Tee oder manchmal auch einen Kaffe an Bett gebracht hatte? Wie nur? Wie konnte sie die Person vergessen, die ihr, an ihr, kurz nach ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, etwas so wertvolles, ein Teil ihrer Erinnerung geschenkt hatte, vergessen. Wie?
Sie schlüpfte in ihr knöchellanges, seidenblaues Nachthemd, dass sie bei einem Einkauf mit Nelly gekauft hatte, öffnete den Zopf, der ihre Haare zusammengehalten hatte und kuschelte sich ins Bett. Die Decke wickelte sie sich eng um den Körper und mit Malas Namen auf den Lippen, schlief sie schließlich ein.