[Jester]
23:08 Uhr - Wohnheime der Schüler (4) - Mädchenwohnheim
Es war mittlerweile Nacht geworden. Die Aktivitäten auf dem Schulhof, den Jester von ihrem Zimmer aus sehen konnte, waren nach und nach abgeebt, bis sie schon vor Stunden zum Erliegen gekommen waren. Der Vollmond schien durch die dünnen Vorhänge und tauchte das Zimmer in ein stilles Blau.
Seitdem sie bei Ibuki gewesen war, hatte sie ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Dies war nicht mehr die Welt, die sie gekannt hatte. Ihr Zimmer war leer und stellte nur bereit, was wirklich gebraucht wurde. Es war nicht vorgesehen, hier viel Zeit zu verbringen. Generell schien die Welt mehr darauf erpicht zu sein, die Menschen in eine Gruppe zu bringen. Unter normalen Umständen hätte Jester darauf gewettet, dass dies zu manipulativen Zwecken genutzt werden könnte, doch in dieser Welt stimmten ihre Erfahrungen und Erwartungen nicht mit dem überein, was der Erschaffer wollte.
Dass Jester dieses schüchterne Mädchen nicht überzeugen konnte, war eigentlich nicht das Problem. Vielleicht hatte ja auch nicht viel gefehlt, bis sie sich hätte umstimmen lassen. Doch irgendwie... "Nun gut, egal. Ich will jetzt nicht mehr darüber nachdenken." sagte sie laut zu sich selbst, als sie sich umzog und auf das Bett setzte. Jester blickte noch eine Weile hinauf zu dem schönen, großen Vollmond, bis ihr irgendwann die Augen zufielen.
[Jester's Traum]
Irgendwo in einer Jugendherberge in Japan
"Ja! Ja, wirklich!" sagte Beatrice. Sie lag auf dem Bett und lächelte Jester an. Das Zimmer der Herberge, in der sie sich befanden, war nicht wie bei jeder anderen Herberge in Japan. Es war eher italienisch angehaucht, der Grund, weshalb die Schulgruppe diese Herberge gewählt hatte. Zwei Betten waren dort, jeweils an einer Wand eines. Wenn man durch die Tür eintrat, sah man direkt ein kleines Bild an der Wand, rechts von dem Eingang war Jester's Bett, links Beatrices. Neben Jesters Bett stand ein Nachtschränkchen, welches hauptsächlich jedoch von Beatrice benutzt wurde. Diese hatte ebenfalls das Bett bekommen, welches dem Fernseher zugewandt war, doch das war Jester egal. "Er hat wirklich nach dir gefragt! Er will dich sehen! Also los, Vic... ich meine, Jester! Schnapp ihn dir!" Während Beatrice auf Jester einredete, blickte sie selbst aus dem kleinen Fenster über ihrem Bett. 'Jack will etwas von mir? Mir, Victoria Lacrime? Seit einem Jahr warte ich schon darauf...' Beatrice war zwar keine Person, die man Freundin nennen konnte, doch sie hatte Kontakt zu Jack. Und so komisch es ihr vor kam, konnte Jester nur noch an eines denken: Ihn sehen und in seinen Armen liegen.
Sie stieg aus dem Bett, zog sich um und begab sich zu Jack. Nun hatte sie ihr gewohntes Outfit an. Ihre silbermetallenen Haare waren zu zwei Zöpfen gebunden, die jeweils mit violetten und türkisen Strähnen durchzogen waren. Sie trug die weißen Katzenöhrchen, welche sie sich an diesem Tag gekauft hatte. Sie waren zwar nicht billig gewesen, doch sie bewegten sich realistisch. Sie konnten bis zu einem gewissen Grad die Richtung nachempfinden, in die der Träger seine Aufmerksamkeit lenkte. Zum einen hatte sie diese Necomimi gekauft, weil sie ihr gefielen und zum anderen, weil sie wusste, dass Jack auf Nekos stand. Ihre selbst geschneiderten Klamotten waren an die Narren des Mittelalters angelehnt, wenn sie auch deutlich enger am Körper lagen als zu der Zeit der Könige und Ritter. Der rechte Arm war in einem violetten Ärmel, der an die türkise Hälfte des Oberteils anschloss. Die linke Seite trat in umgedrehter Farbkombination auf. Das Oberteil schloss im Zickzackmuster ab und gab ungefähr fünfzehn Zentimeter des dünnen Bauches frei. Auf ihrem Gesicht waren Tattoos, die jeweils ein Pik zeigten, ein umgedrehtes, türkises auf der rechten Wange und ein normal stehendes, Violettes auf der linken. Ihre Augen waren verbunden, doch durch den Stoff, den sie benutzte, konnte sie hindurch gucken, doch niemand konnte ihre Augen sehen. Es war unfassbar schwierig, einen so gut wirkenden Stoff zu finden! Ihre Hose war eine violette Leggings, die entlang der Oberschenkeln ganz an den Seiten jeweils ein fünf Zentimeter breites Rechteck ausgeschnitten hatten. Dies war zu keinem besonderen Zweck, sondern einfach, weil es Jester gefiel.
Nun stand sie vor seiner Tür, klopfte. Ihr Herz pochte so stark, dass sie sich sorgen machte, ob er es hören konnte. Es war immer das gleiche bei ihm. Sie verlor ihre Selbstsicherheit, ihre Knie wurden weich und ihr Brustkorb schien zu explodieren, während sie gegen den Fluchtreflex kämpfte und darum rang, etwas gescheites sagen zu können.
Die Tür sprang auf und da stand er. Jack Frost. Er hatte eine unfassbar angenehme Stimme und wundervolle, grüne Augen. Er war siebzehn und trug hauptsächlich dunkle Klamotten. Sein schwarzes Hemd und seine dunkle Hose passten ihm wie angegossen. Er lächelte selbstgefällig und bat Jester mit einer Handbewegung hinein. Diese folgte der Bitte und weil sie so unsicher war, stellte sie sich in die Mitte des Zimmers. Dies war ein Einzelzimmer, mit einem großen Bett und ebenfalls großen Fenster, welche gegenüber der Eingangstür thronten. Rechts stand ein alter Schrank, links hing das Gemälde einer Frau im Kimono und auf dem Boden war ein scheinbar sehr dicker Teppich, denn Jester hörte ihre Schritte nicht, als sie darüber ging.
Was sie ebenfalls nicht hörte, war das schnelle tapsen von vier Beinen. Das Klicken eines Schlosses und das Ziehen des dazugehörigen Schlüssels auf der anderen Seite der Tür. Jack trat zu ihr. "Hallo Victoria. Ich denke, du hast kein Problem damit, wenn ich dich so nenne, oder?" Er ging um sie herum und blieb vor ihr stehen. Obwohl er nicht muskulös schien, besaß er doch einen athletischen Körper und sehr viel Kraft. Er strich Jester mit dem Handrücken über die Wange. Es war ihr nicht möglich, sich zu bewegen. "Wie schön, dass du hier bist. Ich möchte ehrlich zu dir sein." Sie hatte auf den Boden geguckt, doch nun hob sie ihren Blick. Irgendetwas passte nicht. "Ich möchte das hier wegen dir machen. Ich weiß, dass du auf mich stehst und ich weiß...", Jack senkte die Stimme, bis nur noch ein lustvolles Flüstern zu hören war. "...dass du mich willst. Du solltest mittlerweile wissen, dass ich eigentlich Mädchen mit... weiblicheren Körpern bevorzuge." Langsam kam sie aus ihrer Starre heraus. Jester glaubte nicht, was sie gerade hörte! "Doch, weil du es bist und mich schon seit einem Jahr zum Lachen bringst und mich verehrst, mache ich eine Ausnahme." Er grinste sie an, wie wenn eine Katze vor einem Mausloch hockte und fuhr mit seinen Händen an ihren Armen hinunter. Seinen Mund brachte er ganz nah an ihr Ohr und wisperte "Ich werde dich entjungfern und dir damit einen Gefallen tun, Victoria Lacrime!" Jack griff mit der Rechten ihren Hintern und ging mit der Linken an ihre Brust, als sie sich wehrte. Sie trat einen Schritt zurück und blickte ihn ängstlich an. "Ich, ich will nicht..." "Was willst du nicht? Das hier? Es ist doch das, worauf du seit einem Jahr wartest! Also komm her!" Er blickte sie fordernd und wütend an, als sie weiter sprechen wollte. "Ich will eine Beziehung, nicht das du mich einmal in dein Bett zerrst und dann nicht wieder anguckst..." Er schien sie überhaupt nicht gehört zu haben, denn er griff wieder nach ihr. Sie wich dem Griff aus und stand nun zwischen ihm und dem Bett. Erneut trat er auf sie zu. Jack griff Jesters Handgelenk und durch seine Wut beflügelt, warf er sie praktisch auf sein Bett. Sie wollte den Sturz abfangen, sich abrollen...
Doch sie schaffte es nicht. Wie in Zeitlupe verstrichen die Sekunden nun.
Sie sah, wie er seinen Arm zurückzog und seine Augen sich weiteten, als sie das Fensterglas durchbrach. Sie spürte, wie die Scherben sich durch ihre Kleidung und Haut kämpften und ihr höllische Schmerzen bereiteten. Jester's Augenbinde wurde durchschnitten, während sie durch die Luft flog. Der Stoff segelte langsam zu Boden. Sie selbst fiel gerade aus dem dritten Stock. Die Zeit schien immer langsamer zu vergehen. 'Warum? Warum passiert mir so etwas? Was habe ich falsch gemacht?' Tausende Fragen schossen durch ihren Kopf, als sie sich scheinbar nur Zentimeter für Zentimeter durch die kalte Abendluft bewegte. Ihre violetten Augen schlossen sich kurz, Tränen rannen über ihr Gesicht.
Die Herberge hatte einen Zaun aus dicken Holzpfählen, die oben angespitzt waren, damit keine Vögel sich darauf setzten. Jester wusste, dass es zu spät war, doch sie griff noch ein letztes Mal nach Jack. Ihre Augen weiteten sich ein letztes Mal, als der Holzpflock sich durch ihr Herz bohrte und ihrem Leben ein Ende setzte.
02:37 Uhr - Wohnheime der Schüler (4) - Mädchenwohnheim
Jester schreckte auf. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie zog die Beine an den Oberkörper, schlang die Beine darum, verbarg ihr Gesicht und konnte nichts mehr tun, als zu weinen.
Erst nach fast einer Stunde hätte man, wenn man vor ihrem Zimmer stehen würde, nur noch ein leises Wimmern gehört.