[Yukiko Sakamato]
Tag 2 - 22:30 Uhr - Wohnheime der Schüler (4) - Mädchenwohnheim - Yukikos Zimmer
Völlig erschöpft ließ sich Yukiko auf ihr Bett fallen und dankte dem Erschaffer dieser Welt lautlos für die weiche Matratze. Nicht nur war sie noch immer furchtbar frustriert von ihrer Unfähigkeit mit den Computern umzugehen. Sie konnte schwören, dass diese Dinger sie hassten! Obwohl sie alles so gemacht hatte, wie sie es bei Kouta und Rika beobachtet hatte, spuckten die Maschinen ihr ständig die unterschiedlichsten Fehlermeldungen entgegen, wodurch sie absolut überflüssig gewesen war. Sie verwettete ihre Hand darauf, dass die beiden einen Heidenspaß an ihrem Kampf mit den PCs hatten. Es war aber auch lächerlich, dass sie sich nie mit denen beschäftigen durfte. Das war schon als Kind immer einer der Gründe gewesen, warum sie als Außenseiterin behandelt wurde. Die Gesprächsthemen fehlten einfach die meiste Zeit über. Und das war definitiv einer der Gründe, warum das so war.
Abgesehen davon taten ihr so ziemlich alle Muskeln weh, von denen sie wusste, dass sie existierten. Nachdem sie mit den Nachforschungen fertig waren, die Experimente im Labor so weit beendet hatten, hatte Kouta noch vorgeschlagen ihre Erzeugnisse in eine sichere Umgebung zu verfrachten. Wie auch Rika stimmte sie dieser Idee aus offensichtlichen Gründen zu, womit die Schlepperei begann. Bis zu dem Zeitpunkt hatte sie nicht realisiert wie viel die beiden hergestellt hatten! Es wäre weniger ein Problem gewesen, wenn sie sich nicht schon beim Kampf mit Kenichi völlig verausgabt hätte.
Mit einem Seufzen drehte sie sich auf den Rücken und starrte die Decke für einen Moment nachdenklich an.
"Ich sollte wirklich meinen Platz finden...", murmelte sie. Sie war mehr als froh Rika als Freundin gefunden zu haben. Aber trotzdem hatte sie nach wie vor ein schlechtes Gewissen, dass sie die beiden teilweise mehr behinderte, als das sie ihnen half. Dazu kam dann noch die Gefahr durch Ibuki... Erneut seufzte sie, hievte sich wieder auf die Beine und stellte sich unter die Dusche. Während das heiße Wasser sie zum Entspannen brachte, drifteten ihre Gedanken zurück zu Kenichi. Noch immer fassungslos über seine Dreistigkeit schüttelte sie den Kopf. Insbesondere nach dem Zwischenfall mit Leo... Sobald er auf Leos wütende Herausforderung eingegangen war, hatte sie eine Schlägerei erwartet. Nie hätte sie gedacht, dass er die Schläge einfach einstecken würde. Schon gar nicht solch einen heftigen Angriff. Verdammt noch mal er hätte sterben können! Zumindest aus seiner Sicht. Schließlich wusste er nicht, dass man in dieser Welt nicht wirklich sterben kann. Warum um alles in der Welt, würde er sich dann nicht wehren?
"Nggghhhhh!", brummte sie und schüttelte erneut ihren Kopf, sodass ihre Haare Wassertropfen gegen die Abschirmung schleuderten.
"Alle Kerle machen doch eh nur, was sie wollen! Sollen sie doch! Absolut nicht mein Problem", murmelte sie. "Ich brauch mir keine Sorgen zu machen..." Sie musste es hören, denn sie glaubte es nicht wirklich. Der Vorfall war wegen ihr entstanden. Sie hätte ihn nicht verhindern können, sie traf nicht wirklich eine Schuld. Oder hätte sie Leo von Anfang an klar machen müssen, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte? Aber das wäre auch in gewissem Maße eine Lüge gewesen. Noch war sie zu sehr mit sich beschäftigt, um sich zu verlieben. Allein die Vorstellung ließ sie selbst unter der heißen Dusche frösteln. Gefühle waren in ihrem bisherigen Leben unwichtig gewesen. Sie hatte sich mit jenen zu treffen, die wichtig und nützlich waren. Oft genug obwohl auf beiden Seiten tiefe Abneigung dem Gegenüber über empfunden wurde. Rationalität und Beherrschung waren die leitenden Devisen gewesen. Und sie hatte vergessen jemals etwas anderes gekannt zu haben. Und nun fand sie sich plötzlich in einer anderen Welt wieder, wo all dies nicht mehr existierte. All Regeln, alle Sicherheiten, alles Vertraute war plötzlich verschwunden. Ihr war bewusst, dass dies im Grunde etwas Gutes war. Aber trotzdem fühlte sie sich noch immer verloren und hatte das Gefühl nicht hierher zu gehören.
"Wenn sich die Gelegenheit bietet, muss ich Rika-senpai unbedingt sagen, wie wichtig sie für mich ist...", flüsterte sie. Das war das Mindeste, was sie tun konnte. Rika war momentan ihr Halt und ihre einzige Sicherheit. Irgendwann müsste sie sich dafür bedanken.
Langsam drehte sie das Wasser ab und machte sich fertig für das Bett, indem sie sich abtrocknete, die Haare föhnte und den noch immer rosa Pyjama anzog. Dann räumte sie die Kosmetik Utensilien noch in ihren Badezimmerschrank, um sie am nächsten Morgen benutzen zu können. Sie gähnte herzhaft während sie sich ins Bett legte. Düster bereitete sie sich auf die kommende Albträume vor. Doch die Erschöpfung des Tages überwältigte sie dermaßen schnell, dass sie sich nicht einmal mehr an die letzte Nacht erinnern konnte.
Im Traum erwachte sie wieder in dem dunklen Kellergewölbe, in dem sie ihren Tod fand. Wieder waren sowohl Hände als auch Füße an einen Stuhl gefesselt. Wieder leuchteten in einiger Entfernung die wagen Umrisse grüner Fratzen auf, die in Erwartung ihrer Schmerzen höhnisch lachten. Doch aus irgendeinem Grund war sie geknebelt. Wie sollte sie so die Geheimnisse ihres Vaters verraten? Bevor sie sich weiter darüber wundern konnte, wurde das Leuchten der Fratzen stärker. Sie tanzten auf sie zu und sie spürte, wie sich scharfe Messerklingen in ihre Haut bohrten. In dem Augenblick, in dem sie einen Schrei unterdrückte, geschah etwas völlig absurdes. Aus der massiven Decke fiel eine menschliche Gestalt. Sie landete in der Hocke genau zwischen ihr und den Fratzen, worauf auch der Druck der unsichtbaren Messerklingen verschwand.
Sie brauchte nur wenige Sekundenbruchteile um die Gestalt als Kenichi zu erkennen. Völlig verdattert starrte sie ihn an, während er sich gemütlich aufrichtete und umsah. Den Fratzen warf er nur einen kurzen Blick zu, als währen sie bedeutungslos. Dann wandte er sich Yukiko zu und lächelte sie wölfisch an. Sie kannte dieses Lächeln. Genau den Ausdruck hatte er gehabt, als sie ihn zu einem Kampf herausgefordert hat. Als würde er wittern, dass er bekommen sollte, was er wollte. Yukiko verlangte, dass er sie befreite, doch der Knebel ließ nur gedämpfte Laute zu. Stattdessen beugte er sich vor und strich ihr über den Kopf.
"Ist alles gut", sagte er sanft und mit zufriedenem Unterton. "Ist alles gut..." Yukiko wandte sich in ihren Fesseln um ihn dazu bewegen sie freizulassen. Doch er grinste nur weiter und fragte:
"Kleines, krieg ich meine Revanche wenn ich dir helfe?" Seine Hand glitt entlang ihrer Haare zu ihrem Gesicht und streichelte sanft ihre Haut. Sein Gesicht kam dabei immer näher und befand sich nur wenige Zentimeter vor ihrem eigenen.
"Oder soll ich...", begann er, verstummte jedoch und legte seinen Kopf schief. Yukikos Augen weiteten sich und sie erstarrte, als er er noch näher kam und ihr vorsichtig über eine Schnittwunde an der Wange leckte. Sofort lief ihr kalter Angstschweiß den Rücken hinunter. War das es? Wollte er sie wirklich so benutzen? Doch gleichzeitig registrierte sie, dass sich in dem Moment, in dem seine Zunge sie berührt hatte, die Wunden an ihrem ganzen Körper schlossen und nur ein erregendes Kribbeln zurückließen.
Bevor sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, durchfuhr ein heftiges Krachen den kleinen Raum. Die Wand links von ihr wurde brachial aufgesprengt und ein wilder Leo sprang aus der Staubwolke hervor.
"NIEMAND FASST MEINE YUKIKO AN!", schrie er. Unter der donnernden Lautstärke zuckte Yukiko zusammen. Dann stürmte der Junge mit unveränderter, brachialer Gewalt in einer Linie durch den Raum und zerstörte dabei alles in seinem Weg. Kenichi wurde mitgerissen und bildete zusammen mit Leo ein unförmiges Knäuel, das die gegenüberliegende Wand durchschlug und in einer weiteren Staubwolke verschwand.
Selbst die grünen Fratzen starrten den beiden völlig ungläubig hinterher. Sowohl Yukiko hatte sie, als auch sie hatten Yukiko vergessen. Im nächsten Moment hörte man ein Husten. Blinzelnd sah Yukiko wieder zur linken Wand, wo sich ein Loch langsam aus der grauen Staubwolke schälte. Und daraus kletterte mit beherrschten Bewegungen Takeshi hervor. Auch er ignorierte die Fratzen und stellte sich vor Yukiko. Dann schob er eine schmale Brille zurecht und meinte:
"Sakamato-san, du bist im Zentrum der letzten Unruhen gewesen. Ich hoffe deine Entfernung aus der Schulumgebung für einen Tag wird reichen die Wogen zu glätten und dir Zeit zum Nachdenken geben."
Er verstummte und dann tauchte plötzlich Kouta schräg hinter ihm auf.
"Mir ist egal, dass sie mich bestohlen hat, solange ich meine Fähigkeit ausüben kann!"
Takeshi löste sich in Luft auf und wurde mit einem weißen Lichtblitz durch Rika ersetzt. Sie sah sich stirnrunzelnd im Raum um und entdeckte die grünen Fratzen. Für einen Moment starrte sie die beiden an. Diese blinzelten. Dann zog Rika ihre Pistole aus der Tasche und erschoss die beiden Wesen ohne zu zögern, wodurch auch sie sich in Luft auflösten.
Dann wandte sie sich Yukiko zu und lächelte. Dann löste sich der Raum langsam auf, als Yukiko langsam aus ihrem Traum glitt.
Sie öffnete die Augen und starrte auf ihre Knie. Sie hatte sich wohl während des Schlafs wie ein Fetus zusammengerollt und sich die Decke über den Kopf gezogen. Sie stöhnte, während der Traum in ihrem Kopf herumspukte. Noch nie im Leben hatte sie etwas derart absurdes geträumt. Langsam kämpfte sie sich unter der Decke hervor und stöhnte erneut. Wie es zu erwarten war, hatte sie Muskelkater. Und das ordentlich. Ein müder Blick zum Wecker zeigte ihr 5:40 Uhr an. Sie ließ sich zurück in die Kissen sinken. Immerhin hatte sie mehr oder weniger durchschlafen können. Sie entschied, dass es sich nicht mehr lohnte die Gefahr auf einen weiteren Traum wie diesen einzugehen und stieg unter die Dusche. Bis kurz vor sieben verbrachte sie die Zeit im Bad, um mit ihrem neuen Make Up herum zu experimentieren. Es war nicht so gut wie das, was ihr von den Experten immer aufgetragen wurde, aber es war auch alles andere als schlecht. Sie brauchte ein paar Versuche um ein optimales Ergebnis herauszuholen, aber es lohnte sich aus ihrer Sicht. Dunkle Lidstrich und Eyeliner betonten ihre Augen und brachte sie regelrecht zum funkeln. Mit der Wimperntusche kämpfte sie ein wenig, was aber mehr daran lag, dass die Pinsel nicht optimal waren. So war es ein wenig knifflig zu vermeiden, dass sie nicht aneinander klebten. Und zu guter Letzt konnte sie ihre Augenringe kaschieren. Zusammen mit ihrem eher lächerlich absurden, als grausamen Traum, hatte sie wieder eine gesunde Farbe im Gesicht. Sie betrachtete sich noch einen Augenblick und lächelte. So gefiel sie sich doch gleich viel mehr. Doch als sie den Gedanken weiterführte, erinnerte sie sich an eine Szene aus ihrem Traum. Als Kenichi sich vorgebeugt hatte und sie...
Sofort lief sie rot an und schüttelte den Kopf. Das würde er nicht wagen. Selbst er nicht! Oder... doch? Sie verdrängte den Gedanken und zog den Rock ihrer Schuluniform zusammen mit der neuen Bluse an. Heute stand wichtigeres an. Sie durfte sich nicht von blöden Träumen ablenken lassen.
Dann ging sie herunter und wartete in einiger Entfernung zum Eingang auf Rika. Sie wollte nicht schon direkt am Morgen zu offensichtlich präsentieren, dass sie Dinge besaß, die es so eigentlich nicht geben sollte. Insbesondere nicht, wenn Ibuki ebenfalls zu den Mädchen im Wohnheim gehörte.