Yukikos Prolog
Yukiko befand sich in einem fensterlosen Raum. Ihre Hände waren hinter ihrem Rücken an einen Stuhl gebunden und ihr Kopf lag kraftlos auf ihrer rechten Schulter. Die rotumränderten Augen waren geschlossen, um sich vor der einzigen Lichtquelle im Raum, einem Scheinwerfer, der links vor ihr stand, zu schützen. Ab und zu bebten ihre Schultern. Doch die Bewegung erstarb immer wieder nach nur wenigen Augenblicken. Sie hatte keine Tränen mehr zu vergießen, keinen klaren Gedanken mehr zu fassen. Keine Hoffnung, an die sie sich hätte klammern können.
Dann ertönte das Kreischen von Metall. Hinter ihr wurde die Tür geöffnet. Sie hörte die Schritte ihrer Peiniger. Reflexartig versuchte sie ihren Kopf herum zudrehen und die beiden Männer anzusehen. Doch das Licht war zu grell, ihre Augen zu empfindlich und sie zu schwach. Lediglich zwei verschwommene Gestalten konnte sie hinter der Wand aus Licht erkennen. Dabei hatte sie gewusst, wie sie aussahen. Ganz genau. Doch jetzt, nach Tagen der Gefangenschaft und des Entzugs, war nicht mehr viel von ihren Erinnerungen übrig geblieben. Nur die stärksten Eindrücke hatten ihre Tortur überstanden. Einer von ihnen stank nach Aftershave. Ein intensiver und schneidender Geruch, an den sie sich immer erinnern würde.
Einer von ihnen stellte sich neben den Scheinwerfer und montierte eine Kamera auf einem Stativ. Der andere, Yukiko wusste sofort, dass es der Mann mit dem Aftershave war, stellte sich vor sie und zwang sie ihn anzusehen, indem er sie am Kinn packte.
„Es ist deine letzte Chance. Sag der Welt, was dein Vater für Verbrechen begangen hat!“, forderte er. In Yukikos Ohren war seine Stimme blechern, Donner aus nächster Nähe. Sie verdrehte die Augen und versuchte den Sinn hinter seinem Gebell zu verstehen. Er wurde daraufhin nachdrücklich. Lauter. Ihr Verstand weigerte sich ihn zu verstehen. Dann schlug er sie. Der Schmerz war ihr nicht neu. Ihre spröden Lippen platzten auf und Blut tropfte auf ihr Kleid.
„Bitte...“, hauchte sie mit letzter Kraft. Sie wusste nicht, was er wollte. Nicht mehr. Aber sie wollte, dass er aufhörte... Die Schmerzen aufhörten...
Und ihr Wunsch wurde ihr erfüllt. Die Männer unterhielten sich kurz und dann gingen sie hinter Yukiko. Einer zog eine Waffe, zielte auf ihre Schulter und drückte ab.
Als die Kugel ihr Fleisch durchbohrte, flammte ihr Körper in ungeahnten Schmerzen auf. Jeder ihrer Muskeln verkrampfte sich und ihr Stuhl kippte um. Eine rote Lache bildete sich unter ihr, wurde beständig größer.
Sie schrie. Dann wimmerte sie. Und verstummte.
08:23 Uhr - Große Treppe - Schulgebäude A
Langsam öffnete Yukiko die Augen. Sie fühlte sich, als wäre sie aus einem langen und unheimlich tiefen Schlaf erwacht. Die Restmüdigkeit machte sie lichtempfindlich, also hob sie eine Hand vors Gesicht, um sich vor der Sonne zu schützen.
‚Sonne?‘, dachte sie stutzig. Irgendetwas daran ließ sie misstrauisch werden.
"Weiß einer wo zur Hölle wir sind?", fragte jemand und da brachen die Erinnerungen über sie ein.
Die letzte Szene, die Erinnerung an den Schmerz in ihrer Schulter reichten aus. Sie blendete den Rest der Welt aus und starrte in den Himmel.
„Ich bin tot“, flüsterte sie leise, um ihre eigene Stimme zu hören. Die Erkenntnis war so grausam und faszinierend zugleich, dass sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte.
‚Ich bin verblutet... Nachdem mir in die Schulter geschossen wurde‘, erinnerte sie sich mühselig.
‚Ich dürfte gar nicht denken können... Ich müsste mich vor Schmerzen winden und mein ganzer Körper müsste nach den Drogen verlangen. Aber... Aber ich fühle mich so gut, wie ich es seit Jahren nicht mehr tat.‘
"Wir sind in der Hölle, so einfach ist das."
Die unbekannte Stimme riss Yukiko aus ihren Gedanken. Sie blinzelte und richtete sich vorsichtig in eine sitzende Position auf. Sie fühlte sich wirklich erstaunlich gut. Dann sah sie sich um und entdeckte eins der seltsamsten Bilder, die sie je gesehen hatte. Mehrere Schüler lagen oder saßen vor dem Eingang zu einem großen Schulgebäude, das sie ihr völlig unbekannt war.
Neugierig betrachtete sie die anderen. Als erstes fiel ihre Aufmerksamkeit auf die Person, die zuletzt gesprochen hatte. Yukiko schätzte, dass sie deutlich älter als sie war. Der tiefe Klang ihrer Stimme ließ sie in ihren Augen erwachsener als die anderen beiden wirken.
Dann musterte sie den einzigen wachen Jungen in der Runde. Er war ungefähr in ihrem Alter, auch wenn sie seine silbernen Haarsträhnen im ersten Moment für die ersten Anzeichen des Alters gehalten hatte. Aber seine Art hatte diesen aberwitzigen Eindruck schnell vertrieben. Er schien voller Tatendrang zu sein. Wahrscheinlich war ihm diese Situation genauso ein Rätsel wie Yukiko selbst.
Das Alter der letzten der drei Erwachten war für sie ein Rätsel. Die Rothaarige war nicht viel größer als sie, hatte aber eindeutige Kurven, die sie als Frau und nicht als Mädchen auswiesen. Hätte Yukiko sie nicht unter diesen Umständen gesehen, wäre sie glatt ein wenig neidisch geworden. Im Moment hatte sie jedoch viel zu viele Fragen, als das sie das hätte beschäftigen können.
„Ano...“, begann sie schüchtern, nachdem sie aufgestanden war, „Ich glaube nicht, dass das hier die Hölle ist. Immerhin sehe ich hier nichts, was uns irgendwie Qualen bereiten könnte. Nur... Nur eine Schule.“
Mit einem schnellen Blick zum Gebäude entdeckte sie zwei Schüler an den Schuhschränken. Nur zögernd löste sie sich von dem so normalen und doch durch und durch befremdlichen Bild und wandte sich wieder den anderen dreien zu.
„I-ich hoffe, dass ihr das nicht falsch versteht... Seid ihr... Seid ihr auch... ehm, gestorben?“, fragte sie kleinlaut und blickte schüchtern von einem zum anderen.