Lenni hatte an diesem Abend einige andere Plumzas zufällig kennengelernt. Sie bildeten eine Musiktruppe aus einem weiter entfernten Plumzadorf namens Höckingen, die herumfuhr und jeden Tag in einer anderen Stadt musizierte. Sie hatten mächtig viel Spaß zusammen und deswegen wurde auch mächtig oft bestellt. Wie immer war Lenni irgendwann der Mittelpunkt des ganzen Geschehens gewesen und das konnte anderen Gästen, die Lenni für schnöde Einfaltspinsel hielt, sehr missfallen.
Irgendwann hatte dann ein stark betrunkener Mann eine Schlägerei anfangen wollen und andere stark betrunkene Männer ließen nicht lange auf sich warten. Wie immer, wenn so etwas geschah, schnappte sich Lenni alle herumstehenden Krüge Alkohol, die er in dem Taumel unbemerkt erhaschen konnte, und versuchte, sich aus dem Staub zu machen. Allerdings tat der gute Bromgrogsaft seine Wirkung und er stolperte, versuchte, sich noch zu fangen, wurde von einem raufenden Kerl angerempelt, wodurch einer seiner Krüge in Richtung Stufen flog und dort zerschellte.
Lenni lag bäuchlings am Boden, zwei andere Krüge zerkrachten und er hatte panische Angst, zertreten zu werden. Irgendjemand warf einen Struhl über Lenni hinweg, der auf der anderen Seite des Raumes zerborst. Er war nur mehr wenige Meter von der Tür entfernt und versuchte dorthinzukrabbeln. Überall um ihn herum rangelten Männer und traten mit ihren Riesenfüßen wild herum, ohne auf Lenni zu achten. Plötzlich stand jemand über ihm, hob ihn mit Leichtigkeit hoch und schaffte ihn hinaus.
Wenn Lenni etwas definitiv hasste, dann war es, getragen zu werden! Er war zwar klein, aber er hatte sehr wohl zwei Beine, die ihn selber tragen konnten! Fauchend, raufend und umherfuchtelnd versuchte er, sich aus dem Griff zu befreien „Lasch runter du mich! Bisch bescheuert wohl! Aufpasst, kriegst mäschtig Ärger mit mir sonst... hicks!“
Die Person, die ihn trug, ließ sich nichts anmerken, sondern ging noch ein Stückchen weiter, hinaus aus dem Dorf. Nach einigen Minuten gab Lenni seine Bemühungen auf und verfiel in hängende Trotzhaltung mit schmollendem Mund. Schließlich ließ ihn die unbekannte Person fallen wie einen dicken Sack. „Bescheuert du bisch wohl ?! Hascht du Probleme oder isch los was überhaupt mit dir??“ lallte Lenni. Er erkannte eine hochgewachsene Person in einen dunklen Mantel mit Kapuze gehüllt, die das Gesicht verdeckte. „Jemand wie du sollte nicht zertreten werden.“ sagte eine tiefe Stimme und dieser Jemand ging langsam Richtung Wald.
Lenni versuchte, sich aufzurappeln. Er erhob seine Faust und brüllte hinterher: „Bisch bescheuert du wohl?! Hasch du Loch im Kopf oder soooo?“ So lange, bis die lange dunkle Gestalt in der Dunkelheit nicht mehr auszumachen war.
Kurz nach Sonnenaufgang wachte Lenni auf. Gähnend streckte er sich und reibte sich seinen Kopf. Er hatte einen mächtigen Kater. „Mist, hab ich wo denn das Wasser?! Muss ich immer austrinken denn die Flasche?“ Seine Stimme war sehr rauh.
Ächzend schob er das Heu beiseite, das ihn in der Nacht warm gehalten hatte, und verließ die Scheune. Etwas leicht wankend durchquerte ein großes Feld und ging eine Böschung hinab zum Fluss, wo er seine Trinkflasche mehrmals auffüllte und wieder austrank. Erschöpft ließ er sich auf einen großen Stein fallen. „Bin ich ja doch nicht mehr so jung wie war ich noch früher. Ist so eine durchzechte Nacht ganz schön anstrengend in meinem Alter.“
Einige Minuten saß er nur so da und ließ sich durch den Kopf gehen, was am vorigen Abend geschehen war. Dann ging er zurück in die Scheune um schnell seine Habseligkeiten zusammenzupacken und in die nächstbeliebige Richtung abzuhauen.
Stockend hielt er den Atem an, als er seinen kleinen Lederbeutel nicht finden konnte. „Ist mein Beutel wo????“ Hysterisch durchsuchte er die ganze Scheune, schaute überall dreimal nach, fing an zu schwitzen und wusste nicht mehr weiter. Im Laufschritt machte er sich auf den Weg ins Dorf zurück, in der Hoffnung, den Beutel irgendwo liegen gelassen zu haben und ihn nun zu finden. Er war vor dem Gasthaus angekommen, in dem er gestern von diesem sonderbaren Kuttenmantelmann gerettet worden war. Er trat vorsichtig ein und sah den Wirten und seine Frau noch die letzten Spuren des vorigen Abends wegräumen. „Wir sollten wirklich keinen Bromgrogsaft mehr kaufen. Die Rotbromgrogobromben haben doch eine aggressive Wirkung!! Das steht in jedem Haushaltsheft!“ meinte die Frau des Wirts. „Lass mich in Ruhe mit deinen Haushaltsheften. Mit denen könnten wir den ganzen Winter über heizen!“
Schnaubend wandte sich die Frau wieder der Arbeit zu.
„Tach auch ich wünsch!“ ließ Lenni verkünden. „Ist wo mein kleiner Beutel?“
„Hallöchen Herr Plumza. Was für ein Beutel?“
Lenni ging nicht länger auf die Frage ein, sondern durchstöberte das ganze Gasthaus, schaute unter jedem Tisch nach, unter jedem Stuhl, öffnete jedes Fass und schob alles beiseite, das so etwas Kleines wie seinen Lederbeutel verstecken hätte können, bis seine Verzweiflung ins schier Unermessliche wuchs.
Plötzlich hörte er jemanden die Treppe herunterkommen. Es war ein junger Mann, gefolgt von einem schneeweißen kleineren Mädchen und einer etwas älteren, jungen Frau – die einen kleinen Lederbeutel an ihrer Seite trug.
Er fauchte und kochte vor Wut, der Bromgrogsaft tat noch immer seine Wirkung. Energisch ging er auf die drei Leute zu, die gerade das Gasthaus verlassen wollten und in seinem Kopf schwirrten schon die Worte: „GIBST ZURÜCK DU MIR MEINEN LEDERBEUTEL!“