UdtG: Tor der Wünsche

  • Bevor ich wieder in der Inaktivität versinke, werde ich mich hier im Geschichtenbereich austoben und meine kreativen Ergüsse mit euch teilen. Zögert nicht konstruktiv zu kritisieren, ich kann das ab.


    @Moderation
    Ich hoffe es ist okay, wenn ich diesen ersten Post als Inhaltsverzeichnis benutze und die Kapitel dann jeweils getrennt reinstelle und hier dann verlinke. Ich habe gerne ein bisschen Ordnung bei sowas. ^^
    Ich werde dann in regelmäßigen Abständen die Kapitel posten, um niemanden mit der Länge zu erschlagen (falls es Leser geben sollte).


    Wofür steht UdtG?
    Es ist für die Geschichte nicht wirklich wichtig, wer will kann die Erklärung ruhig überspringen.
    UdtG steht für Universum der tausend Geschichten. Dahinter verbirgt sich ein Projekt von einer guten Freundin und mir, in dem wir uns eine Welt erschaffen, die für verschiedene weitere Geschichten die Grundlage bildet. Es ist nicht als RPG-Universum gedacht, auch wenn ich mir durchaus vorstellen kann, dass man es gut als solches verwenden kann (wenn es denn fertig ist).
    Jedenfalls immer wenn ihr UdtG auf irgendwelchen Internetseiten seht und es mit Geschichten zu tun hat, die in einer fiktiven Welt der Jetztzeit spielen, könnt ihr davon ausgehen, dass es sich um die Welt handelt, die mit "Tor der Wünsche" eröffnet wird.
    Mit anderen Worten: Dies hier ist die erste von einer unbestimmten Anzahl an Episoden, die euch durch diese Welt führen sollen. :)
    So genug geschwafelt.


    Inhaltsverzeichnis:


    Prolog
    1. Kapitel
    2. Kapitel
    3. Kapitel
    4. Kapitel
    5. Kapitel
    6. Kapitel
    7. Kapitel
    8. Kapitel
    9. Kapitel

  • Prolog


    „Dämonen? Ihr Kinder habt Mut zu fragen… Seid ihr denn sicher, dass ihr eine Antwort haben wollt? - Also gut. Aber beschwert euch nicht, denn diese Geschichte ist solch eine, die euch nicht mehr aus ihren Klauen entkommen lässt. Egal wohin ihr geht, egal was tut, egal was ihr denkt, sie wird da sein. In einer hinteren Ecke eures Bewusstseins lauert sie und springt hervor, wenn ihr es am wenigstens und doch am ehesten erwartet…
    Ganz recht eine Geschichte. Nicht die eure, aber die der Dämonen. – Wie ihr habt geglaubt, dass zuerst die Dämonen da waren und dann die Geschichten kamen? Dass die Gerüchte ein Beweis des Seltsamen sind? Nein. Die Dämonen sind Beweis für die Geschichten. –Was das bedeutet? Nun ein Haus baut sich auch nicht aus Luft, oder? – So ist es. Erst kommt die Geschichte, der Gedanke, die Idee, dann folgt der Dämon, wie ihr ihn nennt. Ein Wesen der Menschen, und doch ihr größter Feind. – Warum? Die spannendsten Geschichten sind die gruseligen. Legenden von Wesen, die Ängste wecken, euch im Schlaf heimsuchen und euch schweißgebadet aus euren dunklen Träumen reißen. Der Terror, die Panik und Hysterie… Das Dunkle und Böse ist es, was den Menschen schon immer fasziniert hat. Der Dämon lauert nun in den Worten… - In den dummen Menschen, die das glauben, meinst du Mädchen? Ha ha… Vielleicht hast du Recht, aber was ändert es? Die Macht der Worte bleibt erhalten, weil sie geglaubt und gefühlt wird. Und dann, ab einem gewissen Punkt, wird der Glaube an die Angst so stark, dass sich der Dämon erhebt. Fleischgeworden aus einer Geschichte, aus bloßen Worten, die eine Idee des Geistes waren. Seltsam, nicht wahr? Was nicht alles in der Macht des Menschen liegt? – Warum, fragst du Junge? Warum sich die Menschen ihre eigenen Ängste auf den Hals hetzen? Ich weiß es nicht. Doch ihr werdet es vielleicht bald erfahren. Ich sagte euch doch schon. Es ist eine Geschichte. Und jede Geschichte braucht Protagonisten. Wie ist es mit euch? Werdet ihr gegen eure Ängste verlieren, oder sind es eure Wünsche, die obsiegen?“

  • Kapitel 1


    „Es ist eine Geschichte. Und jede Geschichte braucht Protagonisten“, äffte Joy den alten Mann mit gerümpfter Nase nach. Währenddessen balancierte sie mühelos auf einem Steinzaun, der die angrenzenden Vorgärten von der Straße trennte. Jeder ihrer Schritte ließ ihre roten Haare, die ihr bis zum Hintern reichten, zu einer Seite wippen. Nach einem kurzen Schweigen, in dem sie das Gesicht ihres Begleiters musterte, fragte sie:
    „Glaubst du den Mist etwa?“
    Kyrill ließ sich mit seiner Antwort Zeit, worauf sie eine ahnende Grimasse zog. Zuerst sah er nur zu Joy hoch, kratzte sich dann am Kopf und betrachtete gedankenverloren den Himmel. Dann schnaubte er amüsiert, zuckte mit den Schultern und meinte:
    „Warum nicht? Der alte Mann schien sich seiner Sache ganz sicher zu sein.“
    „Kyrill!“, stieß Joy darauf vorwurfsvoll aus und sprang von dem Zaun herunter, weil sie die Straße überqueren mussten. Dabei achtete sie sorgfältig darauf, dass ihr Begleiter nichts von dem sah, das sich unter dem Faltenrock ihrer Schuluniform befand. Ihr Blick kehrte in die Waagerechte zurück und traf somit geradewegs auf Kyrills Brust.
    „Das ist doch nicht dein ernst? Dass du dich für diesen Hokuspokus interessierst, kann ich ja noch nachvollziehen. Aber das kann doch gar nicht wahr sein! Dämonen, die sich aus Ideen entwickeln? Unsinn!“
    „Gott ist auch nur eine Idee. Und trotzdem töten, klagen, freuen und fürchten die Menschen sich in seinem Namen. Seine Gestalt ist real in den Ideen der Leute. Und das obwohl er auch nur eine Idee, eine Geschichte ist“, hielt Kyrill gut gelaunt dagegen. Trotzig schob Joy ihre Unterlippe vor und erwiderte:
    „Seit wann bist du bitte ein Gottesanhänger? Selbst wenn es viele Gläubige gibt, die seine Existenz für bewiesen halten, warum gibt es dann keine konkreten Beweise? Richtig. Weil es ihn nicht gibt! Das sind alles Hirngespinste.“
    Kyrill schmunzelte, sah zu Joy herab, musterte sie einen Moment eindringlich, sodass ihr ein fragendes „Was?“ entschlüpfte. Doch er schmunzelte nur wieder, lenkte seinen Blick nach vorne und ging schweigend neben ihr her. Eingeschnappt senkte sie ihren Kopf und schaute ihn schmollend an.
    „Jetzt ignorierst du mich? Bist du am Ende deiner Weisheit angelangt?“ Doch alles er ihr gab, war ein amüsierter Blick. Sein Schweigen hielt an.
    „Jetzt kommt schon! Kyrill!“, forderte sie ihn auf. Darauf schmunzelte er nur wieder und lächelte schweigen.
    „Du weißt genau, dass ich es hasse, wenn du das machst!“, beschwerte sich Joy. Nach einem weiteren Schweigen, meinte Kyrill schließlich, noch immer lächelnd:
    „Die Auswirkungen sind real. Was auch immer der Grund ist. Die Dämonen, wie auch immer du sie definierst, sind real. Zumindest im Kopf und Herzen der Menschen. Das kannst du auch nicht bestreiten.“
    Froh über seine Antwort erwiderte Joy:
    „Dann sind es aber keine Wesen, die nachts umherschleichen und die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Es sind ganz einfach Einbildungen. Zufälle und bestimmte Situationen werden so ausgelegt, dass sie zu den Geschichten passen. Ein Dämon ist geboren. Nur eine wahnwitzige Idee.“
    „Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“
    „Also glaubt du doch dran?“
    „Ich weiß nicht…“, kurz schwieg er, dann suchte er Joys Blick,
    „Willst du es herausfinden?“
    „Heh?“, stieß sie verblüfft aus und blieb für einen Moment wie angewurzelt stehen. Unbeirrt ging Kyrill weiter und wartete, bis sie wieder mit wehenden Haaren aufgeholt hatte.
    „Wie meinst du das?“, fragte sie skeptisch.
    „Ich…“, doch ehe Kyrill seine Gedanken weiter ausführen konnte, ertönte ein leises Miauen aus der nächsten Seitengasse. Sofort blieb Joy stehen, ihr Blick durchbohrte die Dunkelheit der kleinen Straße und machte dort ohne Probleme die Quelle des leisen Geräuschs aus. Ein kleines, rot-grau getigertes Kätzchen lugte dort aus einem Karton hervor, der von einem überfüllten Mülleimer heruntergefallen war. Noch währen Kyrill ihrem Blick zu folgen versuchte, hatte sich Joy schon in Bewegung gesetzt und kniete sich mit glänzenden Augen vor den Karton.
    „Nicht schon wieder…“, murrte Kyrill und folgte ihr. Sie war gerade dabei vorsichtig die Hand auszustrecken, um das kleine Wesen zu streicheln ohne es zu verscheuchen, als er sich hinter Joy gegen die Steinwand lehnte. Dann wischte er sich die widerspenstigen schwarzen Haare aus der Stirn und mahnte:
    „Übertreib es nicht wieder. Das letzte Mal durfte ich dich ins Krankenhaus tragen, weil du das arme Tier dazu gezwungen hast sich zu wehren, weil du es beinahe zu Tode geknuddelt hast.“
    „Jaja, diesmal halte ich mich zurück…“, schlichtete Joy geistesabwesend, vollends darauf konzentriert das kleine Kätzchen nicht zu verscheuchen. Neugierig schnupperte es an ihrem Finger und im nächsten Moment sprang es heraus, um seinen Kopf gegen ihre Handfläche zu drücken. Joy stieß quietsche glücklich und fing an das flauschige Fell hingebungsvoll zu streicheln.
    „Du kriegst Ausschlag. Und Juckreiz“, prophezeite Kyrill, während er sie beobachtete. Doch Joy ignorierte ihn, schnappte sich darauf das Kätzchen und nahm es auf ihren Arm, um es an sich zu drücken.
    „Du lernst es nie, oder?“, fragte Kyrill kopfschüttelnd.
    „Aber guck sie dir doch mal an. Das Fell ist so unglaublich flauschig! Ich könnt den ganzen Tag mit Jasmin knuddeln“, rief sie vergnügt aus.
    „Jasmin? Haben wir vor zwei Wochen nicht genau die gleiche Katze aufgelesen?“
    „Was? Nein!“, rief Joy entsetzt aus, wirbelte schwungvoll zu Kyrill herum und klärte ihn auf:
    „Die von vor zwei Wochen war Rudi. Der Kloß war niemals ein Weibchen. Außerdem hatte war er allgemein ein bisschen größer als Jasmin und hatte kleinere Augen. Wahrscheinlich ist Jasmin auch noch um einiges jünger, als Rudi. Außerdem hatte er einen grauen Fleck genau auf der Spitze des rechten Ohrs und Jasmin…“
    Doch dann wurde sie von Kyrill unterbrochen, der beschwichtigend die Hände hob und meinte:
    „Schon gut, schon gut. Ich habs verstanden.“
    Joy antwortete mit einem fröhlich bejahenden „Hm!“ und widmete sich wieder den Streicheleinheiten der schnurrenden Katze. Dann wanderte ihr Blick aber plötzlich zu Kyrill. Die stumme Aufforderung, die in ihren Augen lag, ließ ihn laut aufstöhnen.
    „Das ist jetzt nicht dein Ernst? Schon wieder?“
    „Jap, der Supermarkt ist direkt um die Ecke. Diesmal brauchst du nicht durch die halbe Stadt hetzen.“
    „Niemals.“
    „Och komm schon. Nur noch dieses eine Mal.“
    „Das hast du beim letzten Mal auch schon gesagt. Und bei dem Mal davor auch und davor auch und…“
    „Bieeeette, Kyrill. Du hast dann auch etwas gut bei mir. Bitte!“
    „Ngh…“
    „Bitte, bitte, bitte!“
    Joy sah ihn flehend an, hob das Kätzchen, das Kyrill ebenfalls mit großen Augen ansah, vor ihren Ausschnitt und bearbeitete Kyrill weiter. Diesem entglitt schließlich ein resignierendes Seufzen.
    „Okay, warte hier… Ich bin schon weg.“
    „Juhu, du bist ein Held!“, rief sie erfreut aus und fing wieder an intensiv zu knuddeln.


    Zehn Minuten später kam Kyrill mit einer Einkaufstüte zurück, in der sich eine Packung Milch und zwei Flaschen Wasser befanden. Schniefend und mit roten Augen begrüßte ihn Joy:
    „Du bist super!“ Mit dem Wasser spülte sie eine flache Dose, die als provisorische Schale dienen sollte aus und füllte sie anschließend mit der Milch. Sofort sprang das Kätzchen darauf an und fing freudig an zu schlecken. Joy kniete daneben und beobachtete das kleine Tier vergnügt. Kyrill stellte sich neben sie und reichte ihr stumm die Wasserflasche. Joy nahm sie zuerst nicht, sondern sah nur ein weiteres Mal flehend zu ihm herauf. Darauf wanderte jedoch nur eine seiner Augenbrauen nach oben. Sie seufzte resignierend, nahm ihm die Flasche ab, brachte ein bisschen Abstand zwischen sich und ihren kleinen Schützling und fing an sich grob mit dem Wasser zu waschen. Wie zur Bestätigung fing sie dabei heftig an zu niesen. Auch ihre Nase wurde aktiv und drohte ihr geradewegs davonzulaufen.
    „Es ist genug“, meinte Kyrill, als Joy das Tier zum Abschied noch einmal drücken wollte.
    „Aber… Aber… Aber…“, doch das Niesen verhinderte, dass sie den Satz zu Ende führte.
    „Nichts aber. Sonst liegst du dank deiner Allergie morgen wieder flach.“ Geknickt füllte Joy die Dose ein letztes Mal auf und trottete dann mit traurigem Blick zurück zu Kyrill.
    „Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie du so in Katzen vernarrt sein kannst. Besonders, wenn die dich für Tage ins Bett bringen können“, schmunzelte Kyrill.
    „Aber genau deswegen! Weil wir wegen der Allergie Zuhause keine Katzen halten dürfen, muss ich jede Chance nutzen, die sich mir bietet!“, erklärte sie eifrig, was in einem lauten Niesen endete. Doch ehe Kyrill sie weiter tadeln konnte, fragte sie:
    „Was meintest du vorhin? Was wollen wir herausfinden?“
    Sofort breitete sich ein breites Grinsen auf Kyrills Gesicht aus.
    „Stopp das. Das ist gruselig“, merkte Joy kritisch, aber ohne jeglichen Nachdruck an.
    „Kennst du schon das Gerücht vom Tor der Wünsche?“

  • Kapitel 2 - Das Tor der Wünsche


    „Noch nie von gehört“, gestand Joy schniefend. Kyrill reichte ihr ein Taschentuch und begann seine Erklärung.
    „Angeblich soll an jedem 31. Tag des Monats um genau 06:13 ein Tor erscheinen, das einen in eine andere Welt bringt, wo einem die unbewussten Wünsche erfüllt werden.“
    „Was für ein Müll“, platzte es förmlich aus Joy heraus. Sie putzte sich kräftig die Nase und meinte:
    „Ein Tor, das einem Wünsche erfüllt? Hört sich an wie vorpubertäres Geschwätz.“
    „Sagt gerade die Richtige…“, murmelte Kyrill und atmete erleichtert, als sein Geflüster in ihrem Niesen unterging.
    „Hast du was gesagt?“
    „Die Sache hat einen Haken. Man bleibt für genau 12 Minuten in der anderen Welt… Doch erstens kehren nicht alle zurück. Und jene, dich es geschafft haben zurückzukehren, sind verändert. Teils völlig neue Personen, die zugeben, dass ihre Wünsche erfüllt wurden, sich aber im gleichen Atemzug wünschen, dass sie das Tor nie betreten hätten.“
    „Ein Tor, das einen dazu bringt, seine Wünsche zu bereuen?“
    „Scheint so.“
    „Hmm…“
    „Interessiert?“
    „Als ob. Aber das ist eine gute Gelegenheit dir zu beweisen, dass das alles nur Mist ist. Wenn du das alleine machst, trau ich dir noch zu, dass du mir was vorschwindelst, um mir einen auszuwischen.“
    „Ist das wirklich so?“, Kyrill sah sie mit einem wissenden Ausdruck von der Seite an. Fast augenblicklich plusterte sich Joy auf und meckerte:
    „Natürlich! Ich glaube nicht an so einen Unsinn. Das ist Kinderkram!“
    „Sonderlich erwachsen hast du dich vorhin nicht verhalten.“
    „Kyrill“, ihr Blick und Stimme waren drohend, „Katzen sind etwas anderes. Die sind einfach zu süß!“
    Dann nieste sie wieder heftig und Kyrill meinte ungerührt, noch immer mit jenem wissenden Lächeln:
    „Also dann treffen wir uns übermorgen um 6 Uhr am Spielplatz beim alten Wald? Da soll das Tor angeblich erscheinen.“
    Joy sah ihn noch einmal kritisch an, schloss dann die Augen und nickte.
    „Du wirst schon sehen was du davon hast. Nämlich nur meinen Zorn so früh aufstehen zu müssen.“
    „Das werden wir sehen. Und wenn ja, dann kann ich damit leben. Von dir bin ich schlimmeres gewohnt.“


    Mit schwarzen Stiefeln, die ihr bis zu den Waden reichten, einer dunkelblauen Jeans und einer dicken Winterjacke kämpfte sich Joy ihren Weg durch die Felder zu dem alten Spielplatz, der schon lange von niemanden mehr benutzt wurde. Die Holzgestelle der Schaukeln und Rutschen waren verwittert und drohten bei der kleinsten Belastung in einander zu fallen, die Wippen existierten bereits nur noch in Form von zwei durchgebrochenen Holzstücken und die Fläche des Sandkasten wurde bereits von den kniehohen Gräsern der Umgebung zurückgefordert. Die Sonne war gerade erst dabei aufzugehen und tauchte damit den gesamten Spielplatz in ein rötliches Zwielicht, das nur durch den Wald im Hintergrund, ein einnehmendes schwarzes Monster, unterbrochen wurde.
    Kyrill lehnte bereits an dem Gestell der Schaukel und wartete auf sie. Als er sie entdeckte, breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht aus.
    „Du bist fünf Minuten zu früh“, begrüßte er sie.
    „Leider. Ich konnt die ganze Nacht nicht schlafen und bin jetzt nur hier, weil ich mich auf diesen Blödsinn eingelassen habe.“
    „Du hättest auch noch versuchen können zu schlafen. Gestört hätte es mich nicht.“
    „Hmpf! Versprochen ist versprochen.“
    „So so…“
    „Was so so?“
    „Du bist nicht ehrlich.“
    „Was? Wieso sollte ich das nicht sein? Glaubst du etwa, ich würde doch an den Kram glauben? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Ich bin nur hier, damit du mir keinen Mist erzählst. Nichts weiter… Mehr nicht, hast du gehört! Und wisch dir das doofe Grinsen aus dem Gesicht!“
    „Immer wenn du lügst, um etwas zu vertuschen, fängst du an zu puffeln“, schmunzelte Kyrill und ließ Joy damit verdattert blinzeln, bis sie ihm energisch entgegensetzte:
    „Puffeln? Was soll das denn bitte sein? Ich glaub nicht an den Kram. Ich bin nur hier, damit du mir nichts vormachen kannst!“ Dann glitt Kyrills Blick über ihre geröteten Wangen und roten Ohrläppchen, was sein Grinsen nur noch weiter vergrößerte. Joy bemerkte seinen Blick und wollte gerade anfangen sich zu rechtfertigen, als Kyrill ihr zuvorkam und meinte:
    „Es ist gleich Zeit. Irgendwo hier sollte das Tor erscheinen. Und zwar ziemlich genau in einer Minute.“
    Joy stemmte ihre Hände in die schmalen Hüften, bestrafte ihn noch mit einem Blick und betrachtete dann angestrengt das offene Gelände. Kyrill ging darauf auf die Schaukeln zu und erklärte:
    „Angeblich solls hier hinter den Gestellen auftauchen… Noch 30 Sekunden. Ich bin mal gespannt.“
    Schweigend folgte Joy ihm und griff nach seiner Hand, sobald sie ihn erreicht hatte. Über die Schulter warf Kyrill einen ruhigen Blick auf ihr blasses Gesicht, dessen Augen beschämt auf den Boden gerichtet waren. Für einen kurzen Moment betrachtete er sie eingehend und sah dann wieder nach vorne. Dabei umschloss er ihre zerbrechlichen Finger mit einem sanften, aber festen Griff. Dicht hinter ihm folgte Joy und erst als ein dunkles Licht auf dem Feld auftauchte, blieb er stehen. Mit versteinerten Gesichtszügen beobachtete er, wie sich eine Kugel aus dunkelbraunem Licht aus der Erde herausschälte. Sie wirkte dabei wie ein Wassertropfen, zerbrechlich und empfindlich. Die Oberfläche wellte sich, wie ein kleiner See und doch wusste Kyrill, dass sie massiv und hart wie Stein war. Joy zog scharf die Luft ein und versteckte sich dicht hinter seinem Rücken. Ihre Augen waren weit aufgerissen und fest auf die Lichtkugel gerichtet. Dann spürte er ein leichtes Zittern, das ihren Körper erfasste. Sanft drückte er ihre Hand, wartete einen Augenblick und ging dann weiter auf die Kugel zu. Joy klammerte sich darauf mit beiden Händen an seine Hand und folgte ihm widerwillig.
    „Neh Kyrill, lass uns abhauen. Das ist unheimlich. Auch wenn es ein Trick ist, ich hab Angst“, flüsterte sie panisch gegen seinen Rücken. Doch gerade als er antworten wollte, veränderte sich die Kugel. Es schien als würde sie platzen. In Zeitlupe löste sich die Spannung der Oberfläche und das Licht rauschte in die Breite. Dann ging es alles ganz schnell. Die braune Masse erstrahlte plötzlich in einem grellen Gelb. Joy stieß einen spitzen Schrei aus und drückte sich gegen Kyrill, der die Augen zusammenkniff, um etwas erkennen zu können. Einen Wimpernschlag später erlosch das Licht fast vollständig. Alles, was übrig blieb, war ein schwach glimmendes Gebilde von zwei Metern Höhe und etwa einem Meter Breite. Die Spitze der Tür, war es, die Kyrills Aufmerksamkeit zuerst fesselte. Es hatte die Form einer altertümlichen Sanduhr. Doch anstelle von Sand schwebte im oberen Behälter ein einziger Augapfel, während die zweite Kammer einen knochigen Kiefer enthielt, der ebenfalls der Schwerkraft trotzte. Kyrill brauchte einige Augenblicke, um sich von dem Anblick loszureißen und zu erkennen, dass der Rest des Gebildes eine Tür darstellte. In der Mitte, etwa auf seiner Augenhöhe, war ein Fenster aus milchigem Eingelassen, hinter dem hektisches Spiel bunter Farben stattfand. Darunter befand sich eine Klinke, die mit einem sanften, blauen Glimmen lockte.
    „Was zum…“, stieß Lyra schockiert hervor, als sie über Kyrills Schulter lugte und ihn damit aus seiner Starre riss. Sein Blick wanderte zu ihr und er meinte mit rauer Stimme:
    „Sieht so aus, als hätte ich Recht gehabt.“
    „Dann lass uns gehen. Bitte Kyrill, ich hab ein ganz schlechtes Gefühl“, flehte ihn Joy an. Doch dann ertönte eine tiefe, hallende Stimme:
    „Das ist eine dumme Idee, Mädchen. Ergreif die Chance und deine Wünsche werden dir erfüllt. Willst du diese Gelegenheit wirklich verstreichen lassen?“
    Erschrocken schrie Joy auf, zuckte hinter Kyrills breitem Rücken zusammen. Dann lugte sie wieder vorsichtig, am ganzen Leib zitternd, über seine Schulter und suchte nach der Quelle der Stimme. Als ihr Blick auf die Sanduhr fiel, ergriff die Leichenblässe Besitz von ihrem Gesicht. Der Augapfel war geradewegs auf sie gerichtet und der fleischlose Kiefer vollführte den makabren Tanz eines lautlosen Lachens. Unbewusst stützte sie sich an Kyrill ab, damit ihre Beine nicht unter ihr nachgaben. Dieser merkte es, schluckte einmal, ballte die Fäuste und fragte:
    „Bist du das Tor der Wünsche?“
    Mit einer ruckartigen Bewegung fokussierte der Augapfel Kyrill.
    „So ist es. Man nennt mich auch Desidera. Soll ich dir deine Wünsche erfüllen, Junge?“ Passend zu den Worten veränderte der Kiefer die Abfolge und Geschwindigkeit seines Tanzes. Und trotzdem hatte Kyrill das unwirkliche Gefühl, dass die Knochen nicht die Quelle der Stimme waren.
    „Was passiert, wenn ich ja sage?“, bohrte Kyrill weiter, ohne die gesamte Tür aus den Augen zu lassen. Seine Muskeln waren bis zum Zerreißen angespannt.
    „Ich erlaube dir zu passieren, in die Welt, wo das Unmögliche wahr werden kann. Deine tiefsten Wünsche werden dort erfüllt.“
    „Meine Tiefsten, sagst du? Woher weiß ich, was das für welche sind?“
    Plötzlich stoppten die Bewegungen des Kiefers. Kyrills Augenbraunen zuckten, als er das bemerkte. Doch so schnell, wie die Knochen aufgehört hatten, fingen sie auch wieder an zu tanzen.
    „Das kann ich dir nicht sagen. Kennst du dich nicht gut genug, um dir diese Frage beantworten zu können?“, erwiderte das Tor. Kyrills Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und dann entspannten sich seine Muskeln. Sofort warf Joy ihm einen besorgten Blick zu.
    „Du willst doch nicht etwa…?“, flüsterte sie fragend und noch immer blass. Darauf drehte sich Kyrill komplett zu ihr um und löste langsam den Klammergriff ihrer Hände. Damit gaben Joys Knie endgültig nach. Doch Kyrill reagierte, fing ihren Sturz ab und ließ sie langsam auf ihre Knie sinken. Dann legte er ihr ihre Hände in den Schoss und legte seine beruhigend darauf.
    „Vertrau mir. Warte hier. Wenn die Geschichte wahr ist, und alles sieht danach aus, als wäre sie es, bin ich in genau 12 Minuten wieder hier und trage dich wie eine Prinzessin nach Hause.“
    Fassungslos starrte Joy ihn an. Tränen traten in ihre Augenwinkel, ihre Lippen formten stumm Worte und sie schüttelte nur hilflos den Kopf. Kyrill lachte leise, fuhr ihr einmal zärtlich durch die kurzen Haare und drehte sich dann um. Doch dann gewann sie ihre Fassung zurück und rief verzweifelt:
    „Du weißt nicht, was passieren wird! Ich will nicht, dass du dich veränderst! Ich will nicht, dass du vielleicht gar nicht mehr zurückkommst! Bleib gefälligst hier!“
    Ihre Worte erreichten Kyrill. Er biss sich auf die Lippe, zögerte, entschied sich dann aber doch dafür die Klinke herunter zu drücken. Ein Schwall aus Licht strömte ihm entgegen, umschmeichelte ihn liebevoll und verschluckte ihn im nächsten Moment vollständig.
    „Kyrill!“, schrie Joy, doch die Tür fiel nur lautlos in Schloss und ließ sie alleine im Zwielicht zurück. Fassungslos, schluchzend und zitternd starrte sie die Klinke.
    „Mädchen“, ertönte dann wieder die Stimme, „Willst du wirklich nur warten?“
    Joy schaute auf und begegnete dem Blick des Augapfels. Ein Schauer durchfuhr sie und ließ sie frösteln. Dennoch schwieg sie.
    „Wünschst du dir nicht, ihm zu folgen? Ihn zurückzuholen?“
    Zuerst zögerte sie, doch dann wandte sie ihren Blick ab und flüsterte:
    „Natürlich will ich das… Aber…“
    „Warum sitzt du dann dort?“
    „Weil… Weil… Er hat gesagt ich solle warten…“
    „Er bedeutet dir viel, nicht wahr?“
    „Ich… will nicht, dass er sich verändert.“
    „Dann geh ihm nach.“
    „Aber…“
    „Deine Wünsche sind auch wichtig. Willst du wirklich dein Verlangen unter seine Forderungen stellen?“
    Diesmal schwieg Joy.
    „Dabei wusste er nichts, als er seine Forderung an dich gestellt hat…“
    „Was meinst du?“, fragte sie sofort und blickte wieder auf, nur um den Kiefer wieder tanzen zu sehen.
    „Die Leute kommen nicht zurück aus einem Grund… Sie bestehen die Herausforderung nicht. Niemand hat jemals gesagt, dass die Erfüllung der Wünsche keinen Preis hätte.“
    Joy blinzelte, bis die Bedeutung der Worte zu ihr durchdrang. Dann stand sie langsam auf und näherte sich mit zitternden Beinen der Tür. Die Stimme lachte. Der Kiefer tanzte. Der Augapfel, drehte sich um sich selbst und tanzte dabei auf und ab. Joy griff nach der Klinke. Das Lachen wurde lauter. Ihr Herz zog sich zusammen. Doch ehe sie zögern konnte hatte sie die Tür bereits geöffnet und wurde von einem Schwall aus Licht in das Tor hineingezogen.

  • Kapitel 3 – Die Schwelle der Göttin


    Unsichtbare Kräfte ließen Joys Körper durch das Meer aus Licht schwimmen, ohne dass sie etwas am Kurs ändern konnte. Es war eine vorbestimmte Route durch einen widerstandslosen Raum, in dem es nichts außer Licht gab. Minutenlang schwebte sie, die Panik ergriff sie und ihr Atem beschleunigte sich. Immer wieder flüsterte sie ein fragendes „Kyrill“ in den Raum, ohne eine Antwort zu erhalten. Doch plötzlich innerhalb eines einzigen Wimpernschlags veränderte sich ihre Umgebung. Die unsichtbaren Kräfte hatten sie in eine Kuppel gezogen, die das Licht mit unsichtbaren Wänden abzuschirmen schien. In der Mitte der etwa drei Meter großen Kuppel stoppte schließlich auch Joys Bewegung. Hektisch sah sie sich um. Doch sie konnte nichts erkennen, was ihr helfen konnte. Ihr Puls stieg. Das Pochen ihres Herzens und ihr schneller Atem waren die einzigen Geräusche, die sie vernahm. Immer wieder glitten ihre Augen über die Wände aus Licht. Sie fröstelte. Das Licht war kalt.
    „Hallo Mädchen.“
    Joy zuckte zusammen. Sie hielt ihren Atem an und schaute panisch umher, ohne etwas zu entdecken.
    „Ich kann verstehen, dass du hier bist“, fuhr die Stimme weiter fort. Währenddessen waren vor Joy unzählige kleine Lichtkugeln aus dem Nichts aufgetaucht, die immer mehr wurden und dabei immer weiter aneinander rückten. Sprachlos beobachtete sie, wie die Kugeln eine menschliche Gestalt bildeten. Zuerst war nur die verschwommene Silhouette zu erkennen, die jedoch mit jeder verstrichenen Sekunde schärfer wurde, bis sie erkannte, dass sie eine Frauengestalt erschufen. Gesichtslos und nackt. Dann tat die Gestalt ihren ersten Schritt auf Joy zu und die Stimme ertönte erneut:
    „Jeder will seine Wünsche erfüllt haben. Es ist so menschlich, wie das Essen, Atmen und Denken.“
    Die melodische Stimme riss Joy aus ihrer Schockstarre. Sie atmete einmal tief durch und führte ihre Hände zueinander. Die Linke hielt sie zur Faust geballt, während sie mit der Rechten anfing den Katzenanhänger ihres Lederarmbändchens hin und her zu drehen.
    „Ich bin hier, um jemanden zurückzuholen“, erwiderte Joy dann und sah die Lichtfrau möglichst selbstbewusst an. Bedächtig legte diese darauf ihren Kopf auf die Seite und fragte:
    „Warum solltest du das wollen?“
    „Weil ich ihm das schuldig bin. Und weil ich nicht möchte, dass er sich verändert, weil der Preis zu hoch ist.“
    „Er? Der Preis?“, wiederholte sie fragend. Dann aber hob sie wieder ihren Kopf, fuhr mit ihrer Hand zu der Stelle, wo ihr Mund gewesen wäre und kicherte.
    „Desidera hat dir wohl ganz schön etwas vom Pferd erzählt. Oder du hast einfach nicht mehr weiter nachgefragt. Es gibt keinen Preis im normalen Sinne.“ Verblüfft blinzelte Joy, rang einen Moment um ihre Fassung und schaffte es trotz aufkeimender Unsicherheit diese zu bewahren.
    „Aber die Geschichte…“, setzte Joy an, wurde jedoch sanft unterbrochen,
    „Die Geschichte sagt, dass die Menschen sich verändern. Wodurch legt sie nicht fest. Vielleicht ist sie deswegen so beliebt bei den Menschen? Vielleicht bekomme ich deswegen bei jedem neuen Besucher eine neue Form?“
    „Aber… Aber…“
    „Du willst wissen, wo das Problem liegt?“, damit schwebte die Lichtfrau bis auf wenige Zentimeter an Joy heran, die zurückweichen wollte, aber nach wie vor bewegungsunfähig war.
    „Warum sich die Menschen trotzdem verändern?“ Joy zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf und meinte entschlossen, aber brüchig:
    „Ich will nur wissen, wie ich Kyrill wieder nach Hause holen kann!“
    Joy meinte von der Gestalt ein enttäuschtes Schnauben zu vernehmen, bevor sie einen Schritt zurückwich und erwiderte:
    „Kyrill? Diesen unausstehlichen Jungen, der vor dir kam?“
    Diesmal nickte Joy. Hoffnung keimte in ihr auf und trieb sie an.
    „Genau ihn. Bitte lass uns gehen.“
    Doch die Lichtfrau schüttelte den Kopf und erwiderte:
    „Das kann ich leider nicht tun. Er hat bereits mein Reich verlassen und hat die Welt hinter der Türangel betreten.“
    „Das Reich hinter der Türangel?“, wiederholte Joy, wobei sie in eine höhere Stimmlage rutschte.
    Die Frau breitete darauf ihre Hände aus, als wolle sie das Licht umschlingen und erklärte:
    „Das hier ist mein Reich. Die Schwelle von einem Raum zum anderen, wo die Gesetze der Welten aufgehoben werden und mich befähigen die Wünsche zu erfüllen. So euch den, deines Freunds. Doch hat er bereits die Schwelle überschritten und ist in einer Welt gelandet, die nicht mehr die eurige ist. Meine Macht habe ich nur in diesem Raum. Also selbst wenn ich wollte, könnte ich deinem Freund nicht helfen.“
    Verzweifelt biss sich Joy auf die Lippen. Ihre Finger spielten immer nervöser mit dem Anhänger ihres Armbandes, während sie sich innerlich den Konsequenzen ihrer Aussage stellte. Doch bevor sie einen Entschluss fassen konnte, befand sich die Lichtfrau plötzlich genau vor ihr. Joy stieß einen spitzen Schrei aus, der sofort wieder verstummte. Die Gestalt hatte ihre leuchtende Hand auf ihren Mund gelegt, wodurch auch der kleinste Ansatz jedes Lauts erstickt wurde.
    „Dieser Kyrill war ein unangenehmer Zeitgenosse. Irgendwie hat er mich dazu gebracht seine Wünsche genau so zu erfüllen, wie er es wollte“, flüsterte das mundlose Gesicht in Joys Ohr, „Es ist das erste Mal… Und es macht mich wütend. Mit mir, der Götting der Schwellenwelt, wurde gespielt, ohne dass ich es gemerkt habe…“
    Mit diesen Worten entfernte sich die Göttin wieder von Joy. Diese versuchte etwas zu erwidern, doch es kam kein Laut über ihre Lippen. Kalter Angstschweiß lief ihr den Rücken herab, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die Göttin interessierte sich nicht für ihre Reaktion. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf Joys Kopf. Ohne jegliche Vorwarnung schoss ein Lichtstrahl aus ihrer Fingerspitze, der geradewegs in der Mitte ihrer Stirn auftraf. Ein innerliches Schaudern durchlief Joy. Sie spürte, wie die Göttin ihre Gedanken zur Seite schob und einen Kern freilegte, den sie schon längst vergessen hatte. Sofort ertönte ein amüsiertes Lachen. Die Lichtfrau warf ihren Kopf in den Nacken und ließ ihren Brustkorb lautstark auf und ab tanzen.
    „Unglaublich…“, flüsterte sie darauf, „Ihr seid die beiden seltsamsten Menschen, die mir je begegnet sind.“
    Dann schwebte sie wieder näher heran und meinte:
    „Aber gut, dann fangen wir doch mal vorne an. Normalerweise tu ich das nicht, aber da es für deinen schwarzen Freund ist, werde ich mich nicht zurückhalten.“ Mit diesen Worten strich sie Joy zuerst über den Kopf. Sofort fingen ihre Haare an zu wachsen. In irrer Geschwindigkeit fielen sie über ihre Schulter, wanderten ihren Rücken entlang und endeten erst auf der Höhe ihres Hinterns. Mit dem nächsten Streicheln ihrer Hand verloren sie ihren Spliss, fingen an sich leicht zu wellen und änderten ihre Farbe in goldenes Blond.
    „Nummer eins“, meinte die Göttin amüsiert im Anblick Joys absoluter Fassungslosigkeit. Dann klatschte sie einmal in die Hände, wodurch sich Joys Kleider in Licht auflösten. Genüsslich schritt die Göttin um ihre Gefangene herum und betrachtete sie eingehend von allen Seiten. Dann berührte sie Joy an drei Stellen ihres Körpers. Die erste war ihre flache Brust, die zweite ihre schmale Hüfte und die dritte ihre Beine.
    „Er mag es wirklich kontrastreich, nicht wahr?“, kicherte die Göttin und schnippte dann mit ihren Fingern. Sofort spürte Joy, die Veränderungen, die mit ihrem Körper abliefen. Ihre Brust wurde deutlich schwerer, ihre Hüftknochen knackten, als sie sich in die Breite schoben, genau wie ihre Beine, die in die Länge schossen und sie größer werden ließen. Tränen der Hilflosigkeit flossen ihre Wangen herunter, doch die Göttin dachte noch nicht daran zu stoppen. Sie beugte sich zu ihr vor und legte ihr die Hand auf die Wange.
    „Warum weinst du denn? Ich kann dir garantieren, dass es in deinem Sinne ist. Immerhin habe ich ihn vorhin vollständig gelesen. Du kannst mir vertrauen“, flötete sie gehässig. Dabei ließ sie ihre Hand auf die Seite ihres Kopfs gleiten und steckte Joys neues Haar hinter ihr Ohr, damit es nicht im Weg hing.
    „Du magst doch Katzen, nicht wahr?“, flüsterte sie, während sie mit sanften Berührungen Joys Ohrmuschel folgte. Die Tränen flossen immer stärker, sie wollte den Kopf schütteln, doch sie war nicht einmal mehr in der Lage zu zittern. Der Bann der Göttin hatte völlig unter Kontrolle.
    Dann legte sich die Handfläche aus Licht auf ihr Ohr und im nächsten Moment hörte Joy ein schrilles Piepen, das ihr komplettes Gehirn durchdrang, ihr unbeschreibliche Schmerzen verursachte und ihre Sicht raubte. Sie wollte schreien, um sich schlagen, doch dann war es auch schon wieder vorbei. Sie atmete heftig. Die Tränen flossen weiter und vermischten sich mit ihrem kalten Schweiß. Im nächsten Moment kehrte ihr Sehvermögen zurück und sie sah die verschwommenen Konturen der Göttin vor sich, die ihr einen Spiegel aus Licht vors Gesicht hielt. Ungläubig weiteten sich Joys Augen vor Schreck, als sie langsam ihr Spiegelbild abtastete. Ihre normalen Ohren waren verschwunden. Alles, was an ihren Stellen übrig war, war glatte Haut. Dann wanderte ihr Blick nach oben und traf auf ihre neuen, getigerten Katzenohren, die keck oben aus ihrem Kopf wuchsen. Wieder kicherte die Göttin.
    „Schick, nicht wahr? Die können sogar alles, was die richtigen Katzenohren können. Immerhin sollst du deinen geliebten Tieren so nahe sein, wie nie zuvor…“ Doch da verstummte sie nachdenklich. Sie kratzte sich am Kinn und Joy vernahm erneut ein boshaftes Kichern. Laut und deutlich. Es war als würden sich die Laute durch ihre Gehörgänge geradewegs in ihr Gehirn zwängen.
    „Aber das ist noch nicht genug. Du bist noch nicht kratzig genug.“
    Damit nahm die Göttin Joys Hand und führte sie in ihr Blickfeld. Dann tippte sie nacheinander jede einzelne Fingerspitze an. Nach der letzten Berührung schoss ein dumpfer Schmerz durch Joys Hände, der sich bis zu ihren Armen hochzog. Als er sich wieder verflüchtigte drückte die Göttin ein letztes Mal sanft auf Joys Handflächen, wodurch sich unterhalb ihrer Fingernägel Öffnungen auftaten, aus denen sich spitze Krallen hervorschoben. Ohne einen weiteren Kommentar wiederholte die Göttin diese Prozedur bei Joys Füßen, während dieser weiterhin stumme Tränen der Resignation die Wangen herunterliefen.
    „So und jetzt fehlt noch der letzte Schliff…“
    Die Götting umrundete Joy, legte ihre Haare zur Seite, um einen klaren Blick auf ihren Rücken zu bekommen und legte einen Finger zwischen ihre Schulterblätter. Sofort schoss ein Kribbeln unter ihre Haut, das sich bis zu ihrer Wirbelsäule erstreckte. Dann zog die Göttin langsam ihren Finger nach unten, folgte ihrem Rückgrat und verteilte damit das Kribbeln auf Joys gesamter Wirbelsäule. Kurz über ihrem Steißbein ließ die Göttin ihren Finger dann verweilen. Ein letztes leises Kichern entschlüpfte ihr und dann wurde Joy schwarz vor Augen, noch bevor sie die Welle des Schmerzes spüren konnte, die durch ihren Körper jagte.


    Als sie langsam wieder zu sich kam, lag sie am Boden der Kuppel. Vor ihr schwebte in wenigen Schritten Entfernung die Gestalt der Göttin, die sie verächtlich anlächelte. Zumindest hatte sie das Gefühl, dass sie es tun würde, wenn sie einen Mund gehabt hätte. Stöhnend setzte sich Joy darauf auf. Für einen flüchtigen Moment verschaffte ihr das Gefühl sich wieder bewegen zu können einen Funken der Hoffnung, doch dann sah sie ihre Klauen, die bedrohlich im Licht der Kuppel schimmerten. Nach wie vor ungläubig starrte sie sie an.
    „Das kann nicht sein…“, murmelte sie. Doch auch, als sie ihre Füße betrachtete, zeigte sich das gleiche Bild. Sie hatte die Klauen einer Katze. Und dann bemerkte sie eine Bewegung auf ihrem Kopf. Sie registrierte sie nur am Rande ihres Bewusstseins, doch sie war da. Langsam wanderten ihre Hände nach oben und fanden etwas Weiches. Auch spürte sie den Druck, den ihre Hände ausübten. Und sie hörte die Berührung. Dann ertönte ein Kichern der Göttin und sofort zuckte ein Ohr in die Richtung der Geräuschquelle. Fassungslos ließ Joy die Hände wieder sinken und versuchte sie zu Fäusten zu ballen. Doch bevor sie sich mit ihren eigenen Krallen ins Fleisch schnitt, fuhren sie ruckartig zurück unter ihre Haut. Erschrocken stieß sie einen spitzen Schrei aus, was die Göttin mit einem schadenfrohen Lachen quittierte.
    „Dabei hast du noch nicht alles gesehen“, merkte sie an und deutete mit einer Geste auf Joys Rücken. Diese Schluckte und drehte widerwillig den Kopf. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie einen flauschigen, ebenfalls getigerten Schwanz entdeckte, dessen Spitze immer wieder hin und her zuckte. Erst beobachtete sie ihn eine Zeit lang fasziniert, bis es zu ihr durchsickerte, dass es ihr Schwanz war, der eine Verlängerung ihrer Wirbelsäule darstellte. Ungläubig klappte ihr Kinn herunter und die Tränen traten ihr in die Augen. Doch ein rebellischer Geist regte sich in ihr, mit dem nackten Handrücken wischte sie sich über die Augen, sprang auf und wandte sich zu der Göttin. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie im nächsten Moment genau vor ihr stehen würde. Erschrocken stoppte sie ihre Bewegung und wollte sich zurückziehen. Obwohl ihr Körper erstaunlich schnell reagierte, schaffte sie es nicht rechtzeitig von der Göttin Abstand zu gewinnen. Der Finger aus Licht berührte sie genau in der Mitte ihrer Brust. Sofort wurde ihr Brustkorb von dem gleichen Kribbeln durchdrungen, wie auch zuvor ihre Hände und Füße. Joy wollte die Göttin anschreien, doch alles, was aus ihrem Mund kam, war ein animalisches Fauchen. Noch bevor sie darauf erschrocken die Hand vor den Mund schlagen konnte, berührte die Göttin ihre Zähne mit einem amüsierten Lachen. Augenblicklich spürte Joy, wie sich ihre Eckzähne verlängerten und dolchartig nach innen verbogen. Mit einem überraschten Satz rückwärts, brachte sie Distanz zwischen sich und der Göttin und tastete vorsichtig mit ihrer Zunge ihr neues Gebiss ab. Dann ließ sie die Hände sinken, wartete bis das Kribbeln ihren Brustkorb verlassen hatte und versuchte zu sprechen. Zuerst lispelte sie, stieß mit ihrer Zunge immer wieder gegen die ungewohnten Zähne, gewöhnte sich dann aber dran und verlangte fauchend:
    „Verwandle mich sofort wieder zurück!“
    „Oder was sonst? Außerdem habe ich dir damit deine Wünsche erfüllt. Du wolltest den Katzen doch näher sein, oder nicht?“
    Noch ehe Joy etwas erwidern konnte, schlug die Göttin die Hände zusammen und meinte überrascht:
    „Da hab ich doch glatt etwas vergessen.“
    Sofort wich Joy weiter zurück. Ein weiteres Fauchen entglitt ihr und das Fell ihres Schwanzes sträubte sich widerwillig. Unbeeindruckt zuckte die Göttin mit den Schultern und forderte Joy auf:
    „Guck dich doch mal an. Wenn du so in die Welt willst, kannst du das gerne tun.“
    Zuerst zögerte sie, senkte dann aber den Blick und sah an sich herab, um festzustellen, dass sie nach wie vor unbekleidet war. Sofort entglitt ihr ein beschämtes Quietschen und sie versuchte ihre Blöße mit den Händen zu bedecken. Wieder kicherte die Göttin und schnippte dann mit den Fingern. Lichtkügelchen schwebten zu Joy, schmiegten sich an ihren Körper und verdichteten sich, so wie sie es auch bei der Gestalt der Göttin gemacht hatten. Im nächsten Moment spürte Joy den Stoff an ihrem Körper. Doch, was sie dort sah, trieb ihr die Röte weiter ins Gesicht. Alles, was ihr die Göttin gegeben hatte, war ein Neckholder Bikini und ein sehr enger Slip. Beide in passendem Tigermuster.
    „D-das ist doch nicht dein Ernst?“, fragte Joy zu fassungslos, um wütend zu werden. Doch die Antwort war bestand nur aus einem weiteren Kichern und plötzlich verloren die Umgebung an Helligkeit.
    „W-was geht hier vor?“, fragte Joy stotternd.
    „Ich habe dir deine Wünsche erfüllt und nun übertrittst du die Schwelle in die nächste Welt. So ist es, wie die Geschichte verläuft“, erklärte die Göttin und Joy konnte ihre sadistische Freude aus der sonst so ruhigen Stimme heraushören. Dann erlosch das Licht und sie stand inmitten der Schwärze.

  • Kapitel 4 - Ankunft


    Ängstlich sah sich Joy um, konnte jedoch nichts erkennen.
    Im nächsten Moment wurde es aber wieder schlagartig hell, sodass sie geblendet wurde. Eine Reihe von Geräuschen und Gerüchen bombardierten sie, sodass ihr schwindelig wurde. Die Eindrücke überforderten sie. Ihre Beine gaben unter ihr nach und ihre Knie fielen auf einen feuchten, aber weichen Untergrund. Schnell und heftig zuckte ihr Schwanz von einer Seite auf die andere und erzeugte dabei raschelnde Geräusche. Joy blinzelte die Tränen aus ihren Augen, während sie sich langsam an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnte. Verwirrt sah sie sich um und fand sich mitten in einem Wald wieder. Durch das lichte Blätterdach fielen die Sonnenstrahlen auf ihre Haut und spendeten ihr eine freundliche Wärme. Ihre Ohren zuckten und nahmen die kleinsten Geräusche wahr. Während sie ihre Umgebung absuchte und die neuen Sinneseindrücke, die Gerüche und Geräusche, den einzelnen Pflanzen und Lebewesen des Waldes zuordnete, richtete sich ihr Schwanz auf und verlangsamte seine Bewegung von links nach rechts.
    „Das muss ein Traum sein…“, flüsterte Joy, nachdem sie sich in ihrer neuen Umgebung zu Recht gefunden hatte. Wandte sich dann aber um und strich zögerlich über das Fell ihres Schwanzes. Ein angenehmes Gefühl breitete sich in ihr aus, was ihr ein gequältes Lächeln abrang.
    „Jetzt bin ich den Katzen wirklich näher gekommen… Meine Allergie ist damit wohl auch nur noch eine Geschichte…“, flüsterte sie und stand dann langsam auf. Ihre Beine fühlten sich nach wie vor an wie Gummi, doch der Schock saß sich nicht mehr so tief in ihren Knochen. Sie spitzte förmlich die Ohren und versuchte sich zu orientieren. Doch selbst ihre neuen Sinne, waren nicht in der Lage etwas anderes, als den Wald wahrzunehmen. Unsicher zögerte sie, fasste dann aber ihren Entschluss. Schleichend fing sie an ihre Umgebung zu erkunden, um irgendeinen Anhaltspunkt zu finden.


    Mehrere ereignislose Stunden, in denen Joy sich immer mehr an ihre neuen Körperteile und ihre neue Sinnesschärfe gewöhnte, vergingen. Und dann vernahm sie ein Geräusch, dass nicht in den Wald gehörte. Mit einem Ruck richteten sich ihre Ohren nach vorne, geradewegs in die Richtung, aus der der Laut zu ihr gedrungen war. Langsam und vorsichtig selbst keine Geräusche durch knackende Äste oder raschelnde Blätter zu verursachen, pirschte Joy sich immer weiter vorwärts. Je weiter sie ging, desto stärker fielen ihr die Zeichen auf. Alle paar Meter entdeckte sie gefällte Bäume und der Boden wies hier und da frische Trampelpfade auf. Nach einigen Minuten hatte sie schließlich den Waldrand erreicht, versteckte sich hinter einem breiten Baum und lugte mit angespannt zuckender Schwanzspitze auf die ebene Fläche, die sich vor ihr ausbreitete.


    Nur wenige hundert Meter von ihr entfernt, befanden sich mehrere Felder, auf denen monströse Weizenpflanzen in die Höhe schossen. Joys Kinnlade klappte herunter. Die Pflanzen würden selbst einen groß gewachsenen Mann um mehrere Köpfe überragen. Doch dann schloss sie ihren Mund wieder und sah sich weiter um. Hinter den Feldern erkannte sie die Umrisse mehrere Gebäude. Bevor sie sich diese genauer ansehen konnte, vernahm sie eine Bewegung im Feld. Sofort drückte sie sich enger an den Baum und richtete ihre Ohren auf die entsprechende Stelle. Wenige Augenblicke später trat ein junger Mann zwischen den dicken Stämmen der Pflanzen hervor. Er stieß etwas aus, das sich wie ein Fluch anhörte, und kratzte sich an seinem dichten Bart. Dann drehte er sich um und ging auf den Rand des Waldes zu. Scharf sog Joy die Luft ein. Er kam geradewegs zu ihr, auch wenn er sie noch nicht entdeckt hatte. Mit pochendem Herz zog sie ihren Kopf aus seinem Sichtfeld und presste sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm. Sie schluckte und versuchte ihre Gedanken zu beruhigen. Ihr empfindliches Gehör nahm seine Schritte immer deutlicher wahr. Auch sein Gemurmel wurde verständlich:
    „Ich war mir sicher, dass ich die Axt mitgenommen habe…“
    Suchend tastete Joys Hand die Stelle ab, wo sich ihr Armband einst befunden hatte. Als sie jedoch nur ihre eigene Haut spürte, biss sie sich auf die Unterlippe und musste durch ein schnelles Zwinkern verhindern, dass eine Träne ihren Augenwinkeln entschlüpfte. Als sie dann seine Schritte nur noch wenige Schritte entfernt vernahm, ließ sie ihre Hand zurücksinken, zögerte, trat dann aber aus ihrem Versteck hervor.
    Der Mann brauchte etwas, um Joys verunsicherte Gestalt zu bemerken, weil er seinen Blick suchend über den Boden wandern ließ. Doch schließlich entdeckte er ihre Füße. Er blieb stehen und ließ den Fokus seiner Augen langsam an ihren unbedeckten Beinen hochwandern. Joy entging dabei nicht, dass sich seine Mundwinkel verräterisch nach oben zogen. Ihre Schwanzspitze reagierte darauf mit einem drohenden Zucken. Als er dann jedoch die ersten Ansätze ihres Schwanzes entdeckte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Seine Augen weiteten sich überrascht, sein Blick wanderte schneller und die Lippen presste er aufeinander. Schließlich blieben seine Augen an ihren Ohren hängen und seine Mundwinkel zuckten.
    „Du brauchst gar nicht so blöd zu gucken!“, entschlüpfte es Joy, deren Wangen ein leichtes Rot angenommen hatten. Doch anstelle einer vernünftigen Antwort brachte der Mann nur ein leises Lachen hervor. Zuerst versuchte er es noch aufzuhalten, aber sobald sich Joys Schwanz sträubte und ihr ein beleidigtes Fauchen entglitt, wurde sein Lachen immer schallender. Es dauerte einige Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte und Joy ohne zu schmunzeln ansehen konnte.
    „Das. Ist. Nicht. Lustig.“, brummte Joy und warf ihm böse Blicke zu. Doch er winkte nur ab und meinte:
    „Tschuldige. Aber das… Es ging einfach nicht anders. Was bitte hast du getan, dass dir die Göttin der Schwelle solch einen Körper verpasst?“
    Joy biss sich aus Reflex auf die Lippe und entblößte dem Mann dabei ihre katzenhaften Eckzähne, die er respektvoll betrachte.
    „Sie war nicht begeistert über die Tatsache, dass vor mir schon jemand das Tor betreten hatte…“, erwiderte Joy vorsichtig, während sie ihrerseits den Fremden nicht aus den Augen ließ.
    „Aber warum bist du hier? Gibt’s hier noch andere Menschen?“, fragte sie neugierig.
    „Jede Menge sogar. Ein ganzes Königreich um genau zu sein.“
    Verblüfft klappte ihr Kinn nach unten. Darauf lachte der Mann und sagte:
    „Das ist die typische Reaktion jedes Neuankömmlings“, er grinste breit, „Du solltest jetzt lieber gut zuhören. Also spitz deine haarigen Ohren!“
    Der Mann breitete die Arme aus und deutete mit einer umfassenden Bewegung auf die Welt hinter ihm.
    „Herzlich willkommen in Suma, dem Land der erfüllten Wünschen, mein kleines Kätzchen.“
    „Ich bin kein Kätzchen!“, fauchte Joy sofort, während ihr Schwanz aufgeregt zuckte. Der Mann überging ihren Einwand und erklärte:
    „Bevor du fragst, möchte ich dir ein paar Dinge erklären. Jeder, der hier ankommt hat wohl die gleichen Fragen. Erstens: Wenn du wieder zurück willst musst du zur Hauptstadt und dir deine Rückkehr verdienen. Zweitens: Schaffst du es nicht, oder willst du nicht tun, was von dir verlangt wird, werden dir deine Wünsche genommen und du wirst den Rest deines Lebens hier bleiben. Und drittens: Nein du kannst nicht einfach den gleichen Weg zurück nehmen, den du gekommen bist. Der König hat es verboten.“
    „Das heißt, Kyrill wird zur Hauptstadt gehen?“
    „Kyrill?“, fragte der Mann verdutzt und kratzte sich am Bart,
    „Ist das derjenige, der vor dir kam?“
    „Ganz genau! Hast du ihn gesehen? Kannst du mir sagen wo er ist?“
    Doch der Mann schüttelte nur den Kopf und erklärte weiter:
    „Jeder Neuankömmling wird an einem anderen Ort dieser Welt ankommen. Wir glauben, dass es zufällig ist, wo man auskommt, aber so ganz sicher können wir uns da nicht sein.“
    „Aber Kyrill wird definitiv zur Hauptstadt gehen?“
    „Das ist sehr wahrscheinlich. Jeder auf dem Land ist angewiesen den Neuankömmlingen zu erklären, dass ihre einzige Chance auf Rückkehr in der Hauptstadt liegt. Also wird er sich vermutlich direkt auf den Weg dorthin machen. Außer er würde nicht in seine Welt zurückwollen.“
    „Wie komme ich da hin?“, bohrte Joy sofort weiter nach ohne auf seine letzten Worte einzugehen.
    Das Lächeln des Mannes wurde breiter und er gab ein wissendes „Hm?“ von sich, bevor er meinte:
    „Was dein Liebling wohl dazu sagen wird das seine Freundin plötzlich zu einer halben Katze geworden ist?“
    Damit trieb er die Röte weiter in Joys Gesicht, auch wenn diese vehement erwiderte:
    „Er ist nicht mein Liebling! Eher so etwas wie mein Bruder. Und jetzt wisch dir gefälligst dieses bescheuerte Grinsen aus deinem Gesicht!“
    „Schon gut, schon gut, Kätzchen“, meinte er amüsiert, drehte sich halb zur Seite und deutete auf das Dorf,
    „Wenn du zum Dorf gehst, wirst du eine Straße finden, die geradewegs zur Hauptstadt führt. Und keine Sorge. Für euch Frauen wurde es extra ausgeschildert.“
    Wieder fauchte Joy. Doch dieses Mal schossen auch ihre Krallen aus ihren Fingerkuppen hervor. Erschrocken wich der Mann zurück und hob beschwichtigend die Hände.
    „Ganz ruhig. Das sollte nur ein Scherz sein“, erklärte er rasch, wobei sein Blick unruhig zwischen ihren Krallen, ihren Zähnen und ihrem gesträubten Schwanz hin und her zuckte.
    „Wenn mit deinem Körper so etwas angestellt worden wäre, wärst du auch nicht in der Laune für dumme Witze!“, fauchte Joy wütend. Dabei schlichen sich animalische Katzenlaute in ihre Stimme, die ihr einen bedrohlichen Charakter verliehen.
    „Ich hab mich doch schon entschuldigt“, erwiderte der Mann, der Joy um mindestens zwei Köpfe überragte hastig, während er einen Schritt zurückwich. Mit seiner Bewegung erreichte plötzlich ein ihr unbekannter Geruch ihre Nase. Zuerst konnte sie ihn nicht zuordnen, doch dann meldete sich ihr Instinkt. Es war Angst. Sie roch seine Angst. Sie registrierte es und es beruhigte sie auf eine seltsame Art und Weise. Mit einem sehr leisen reibenden Geräusch fuhren ihre Krallen zurück und das Fell ihres Schwanzes glättete sich langsam wieder.
    „Gut… Und danke für deine Hilfe. Ich mach mich gleich auf den Weg“, erwiderte sie noch immer fauchend. Der Mann nickt und folgte ihr mit Blicken, als sie an ihm vorbeiging und in Richtung Dorf aufbrach.

  • Kapitel 5 - Suma


    Joy vermied es das Dorf zu betreten. Sie blieb auf Abstand, machte die Straße aus, die der Mann gemeint hatte, und folgte ihrem Verlauf. Ihre Anspannung äußerte sich nach wie vor im Zucken ihrer Schwanzspitze. Die Umgebung ließ sie nicht aus ihren Augen und jedes Mal, wenn ihr jemand entgegen kam, verkrampfte sie sich und bereitete sich innerlich auf eine Auseinandersetzung vor. Glücklicherweise waren es nicht viele Leute, die ihr begegneten. Viele von ihnen würdigten sie auch nur eines schnellen Blickes und beeilten sich dann sie zu passieren. Es machte sie stutzig, doch überwog ihre Erleichterung sich nicht jedes Mal wieder aufs Neue erklären zu müssen. Jedoch gab es ein paar wenige Leute, die die gleichen Reaktionen zeigten, die auch der junge Mann gezeigt hatte. Sie lachten sie aus. Doch eine Sache unterschied sich von ihm. Sie bezeichneten Joy als krank. Nachdem sie zwei dieser Frauen mit einer Demonstration ihrer Zähne und Klauen verstummen ließ und ihren Weg wieder fortsetzte fragte sie sich murmelnd:
    „Meine Wünsche? Waren das wirklich meine Wünsche? Diese Göttin meinte sie hätte sie mir erfüllt. Aber warum auf diese Art und Weise?“
    Eine Antwort auf diese Fragen fand sie nicht. Dennoch mussten sich erst die Umrisse einer Stadt am Horizont abzeichnen, um sie von ihren Gedanken abzulenken. Ihre Aufregung wuchs und sie beschleunigte ihre Schritte.
    „Ich hoffe bloß, dass ich diesen Idioten schnell finde…“, brummte sie, während sie das Tempo ihrer Schritte noch weiter erhöhte, bis sie förmlich über die Straße zu fliegen schien. Sie wollte unter allen Umständen die Stadt noch vor Sonnenuntergang erreicht haben.


    Als die Sonne den Horizont küsste und die Welt in ein schimmerndes, surreales Rot tauchte, hatte Joy die Stadt erreicht. Einige Meter vor den Stadttoren kam sie schließlich angestrengt atmend zum Stehen, um die Situation aus der Entfernung beurteilen zu können. Die Stadt war von einer riesigen Mauer aus kaltem Stein umgeben, die im Abendrot wie mit Blut überzogen schien. Hinter den Mauerzinnen konnte Joy in regelmäßigen Abständen rote Lichter erkennen, in denen sich verschwommene Gestalten bewegten. Das Stadttor stand den Ausmaßen der restlichen Mauer in nichts nach. Seine Breite betrug mehrere Meter, sodass dort hunderte Menschen gleichzeitig passieren konnten, ohne dass es eng wurde. Doch reichten nur vier Menschen aus, um Joy sich in ihre Unterlippe beißen zu lassen. Sie war zwar noch weit wog, doch die scheppernden Geräusche ihrer Rüstungen und Schwertscheiden jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Unsicher beruhigte Joy zuerst ihren Atem und sah dann einmal skeptisch zum Himmel hinauf. Die Sonne würde nicht mehr lange Licht spenden und ihre Instinkte sagten ihr, dass es keine gute Idee war die Nacht draußen zu verbringen. Zögernd ging sie auf die Wachen zu. Trotz der nahenden Dunkelheit wurde sie schnell entdeckt und die Soldaten richteten ihre Aufmerksamkeit auf Joy. Ihre Ankunft erwartend stellten sie sich nebeneinander auf und blockierten damit das Tor. Joy schluckte, ihre Beine wurden weich, doch sie setzte ihren Weg fort, bis sie schließlich kurz vor den Soldaten stand.
    „Bist du ein Neuankömmling?“, fragte einer der Soldaten schroff, bevor Joy auch nur ein Wort murmeln konnte. In seiner Stimme vernahm sie ein seltsames Rasseln, das sie stutzig werden ließ. Eingeschüchtert nickte sie und meinte:
    „Mir wurde gesagt, ich solle hier her kommen.“
    „Das ist richtig. Du hast Glück. Die Ausgangssperre fängt gerade an. Wärst du einen Moment später gekommen, hättest du dich vor einem verschlossenen Tor wiedergefunden“, erklärte der gleiche Soldat. Joy konnte sein Gesicht nicht sehen, da er einen Helm trug, dessen Visier jeglichen Augenkontakt unterband. Seine Rüstung war die gleiche, wie auch die der anderen, jedoch war seine Schwertscheide mit aufwendigen Ornamenten verziert. Er musste der ranghöchste der Soldaten sein.
    „Wir wollen schließen. Also geh rein“, forderte er sie gebieterisch auf. Joy nickte zögerlich. Ihre Instinkte warnten sie und brachten ihre Schwanzspitze zum Zucken.
    „Folge mir“, gebot ihr der Soldat, drehte sich um und ging voraus. Nach einem weiteren Zögern folgte Joy ihm. Doch schon nach den ersten Schritten wurde ihre schlechte Vorahnung stärker. Skeptisch beobachtete sie die Soldaten, die ihnen folgten. Die drei bildeten einen Halbkreis, um Joy, als würden sie davon ausgehen, dass sie flüchten würde. Sie sah wieder nach vorne. Der Hauptmann passierte das Stadttor und würdigte sie keines weiteren Blickes. Als sie auf Höhe des Fallgitters war, zögerte Joy und blieb stehen. Alles in ihr sagte, sie solle nicht weitergehen. Die Soldaten hinter ihr kamen näher, der Hauptmann drehte sich zu ihr um und forderte sie barsch auf:
    „Folge mir! Oder willst du nicht zurück in deine Welt?“
    Die anderen Soldaten hatten sich mittlerweile hinter Joys Rücken positioniert. Hätte sie es gewagt sich umzusehen, hätte sie gesehen, wie die Soldaten ihre Hände auf die Schwertgriffe gelegt haben.
    „Ich suche jemanden. Könnt ihr mir vielleicht helfen ihn zu finden?“, erwiderte Joy unsicher. Darauf näherte sich der Hauptmann mit scheppernden Schritten. Immer wenn das Metall den Steinboden berührte, zuckte Joy innerlich zusammen. Wenige Schritte vor ihr stoppte er und bot ihr seine gerüstete Hand an.
    „Oberste Priorität ist es dich nach Hause zu bringen. Und dafür musst du den König treffen. Also sei ein braves Mädchen und komm mit uns.“
    „Ich muss diese Person zuerst finden. Ich werde nicht ohne sie zurückkehren.“
    Der Soldat ließ seine Hand sinken und legte sie auf seinen Schwertknauf. Reflexartig wich Joy einen Schritt zurück.
    „Das können wir nicht zulassen. Die Befehle des Königs sind absolut. Du wirst mit uns kommen.“ Mit diesen Worten ertönte ein klirrendes Geräusch, während der Hauptmann sein Schwert zog. Ohne zu zögern stieß Joy ein Fauchen aus, ihr Schwanz sträubte sich und sie wirbelte herum, um aus der Stadt zu fliehen. Doch da stürmten die anderen Soldaten mit gezogenen Waffen auf sie los. Der Anblick der scharfen Klingen verdrängten Joys Verstand. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken, der zugleich ihren gesamten Willen widerspiegelte. Entkommen. Innerhalb eines Wimpernschlags hatten ihre Instinkte die Kontrolle über ihren Körper übernommen. Ein tiefes Knurren bildete sich in ihrem Brustkorb, als sie dem ersten Soldaten mit katzenhafter Geschicklichkeit zur Seite auswich. Doch die anderen beiden reagierten augenblicklich. Mit unmenschlicher Schnelligkeit versperrten sie Joy den Weg. Wieder stieß sie ein Fauchen aus und entblößte dabei ihre Zähne. Unbeeindruckt rückten die Soldaten näher. Ihre Schwerter schlagbereit erhoben. Joy hörte die Schritte des Hauptmanns in ihrem Rücken.
    „Gib auf, Mädchen. Wir wollen dich nicht umbringen. Also zwing uns nicht dir weh zu tun“, beschwor sie der Hauptmann. Doch sie glaubte ihm nicht. Statt auf seine Forderung zu reagieren, brach sie nach zur rechten Seite aus. Doch die Soldaten reagierten erneut mit übermenschlicher Schnelligkeit. Sie schnitten Joy den Weg ab, bevor ihr erster Schritt den Boden berührt hatte. Aber sie hatte es erwartet. Sobald ihr Fuß den Boden berührte, stieß sie sich nach hinten ab, drehte ihren Körper in der beinahe fliegenden Bewegung und hetzte am überrumpelten Hauptmann vorbei. Trotzdem reagierte er schnell. Seine Hand schoss ihr hinterher, berührte sogar die Spitze ihres Schwanzes, griff dann aber nur in die Leere. Verdattert blieb er einen Wimpernschlag lang stehen und schrie dann mit seiner rasselnden Stimme:
    „Hinterher! Schnappt sie euch! Lasst das Tor herunter! Sie darf nicht entkommen!“
    Das Krachen des Fallgitters betäubte beinahe Joys gespitzte Ohren. Doch sie hörte nicht auf zu rennen. Die Soldaten waren schnell. Das Scheppern ihrer Rüstungen war hinter ihr. So schnell sie konnte tauchte sie die Schatten einer nahen Gasse ein. Die Soldaten folgten ihr, doch sie wusste, dass sie den Vorteil hatte. Ihre Schritte waren lautlos. Ihr Gehör würde ihr die Position aller Feinde verraten.


    Und so hatte Joy schon bald ein Versteck gefunden. Es war eine sehr enge Straße, dessen Eingang von einem Haufen gestapelter Kisten versperrte wurde. Nur dank ihren Krallen hatte sie dort hochklettern können und sich vorerst hinter der hölzernen Wand in Sicherheit wiegen können. Dort saß sie nun am Boden, lehnte sich mit ihrem Rücken an eine kühle Steinwand und versuchte ihr pochendes Herz zu beruhigen. Doch die Soldaten wollten sie noch nicht ruhen lassen. Immer wieder hörte Joy sie an der Gasse vorbeirennen. Jedes Mal hielt sie ihren Atem an und kauerte sich mit eingeklemmtem Schwanz in die Ecke zwischen den Kisten und der Wand.
    „Moah, Kyrill, was hast du mir da nur wieder eingebrockt?“, murmelte Joy kleinlaut, während sie schutzsuchend ihre Beine umschlang.


    Sie verharrte so noch weitere Stunden, bis sie plötzlich die Müdigkeit in den Knochen spürte. Die hohen Wände und die Enge der Gasse tauchten Joy in beinahe völlige Dunkelheit. Sie wollte nicht schlafen. Doch dann wurde das Scheppern der Rüstungen immer leiser. Die Soldaten entfernten sich. Ein Gefühl der temporären Sicherheit überkam sie und im nächsten Moment sackte ihr Kopf zur Seite. Der Schlaf überwältigte sie und zerrte ihr das Bewusstsein aus dem Körper.


    Am nächsten Morgen wurde sie durch die Geschäftigkeit der Straße geweckt. Schlaftrunken murmelte sie:
    „Wo bin ich? Wa… Warum bin ich in einer Gasse?“ Dann erblickte sie ihren Schwanz und die Erinnerungen kehrten zu ihr zurück. Zwar nur langsam, aber unaufhörlich spielte sich der letzte Tag vor ihrem geistigen Auge ab. Sie stöhnte und murmelte geistesabwesend:
    „Womit habe ich das verdient… Kyrill, du Dummkopf. Warum hast du mich auch allein gelassen…“ Dann schüttelte sie ihren Kopf, sodass ihre langen blonden Haare flogen und rief sich selbst zur Ordnung:
    „Frühstück! Ohne etwas im Magen, überleb ich den Tag nicht. Ich hab seit gestern Morgen nichts mehr gegessen…“
    Damit stand sie auf und spitzte ihre Ohren. Die Straße vor ihrem Versteck wurde nicht sonderlich stark benutzt. Dennoch würde sie sofort erkannt werden. Die Ohren und der Schwanz waren ohne Hut und vernünftige Klamotten unmöglich zu verstecken. Sie biss sich auf die Lippe und fluchte leise, worauf ihr Magen umso lauter knurrte.
    „Verdammt noch mal, was soll ich tun? Ich kann so unmöglich durch die Stadt laufen… Zumindest nicht am helllichten Tag.“ Sofort ertönte ein protestierendes Knurren ihres Magens. Joy strich sich mit einem seufzen über den Bauch und murmelte:
    „Schon gut, schon gut… Ich versuch doch schon etwas daran zu ändern.“
    Doch genau in diesem Moment vernahm sie hinter sich ein dumpfes Geräusch. Erschrocken sprang Joy auf und sah sich hektisch um. Verdattert entdeckte sie an der Wand links neben ihr eine Tür. Und das dumpfe Klopfen, das sie aus dem Gebäude vernahm, kam immer näher. Panik ergriff sie. Sie hatte sich geradewegs in eine Sackgasse hineinmanövriert.
    „Wie hatte ich das übersehen können?!“, fluchte sie und suchte panisch nach einem Ausweg. Reflexartig fuhren ihre Krallen aus und sie sah zu dem Berg aus Kisten hoch. Doch sie zögerte. Würde sie jetzt auf die Straße flüchten, würde sie von allen gesehen werden. Die Soldaten wären ihr bestimmt direkt wieder auf den Fersen. Ihr Zögern reichte aus, um dem Fremden genügend Zeit zu geben die Tür zu erreichen und sie zu öffnen. Joy erstarrte und biss sich auf die Lippe. Ihre Augen verengten sich und sie senkte ihr Becken angriffsbereit. Dann trat die Person aus dem Gebäude hervor. Es war eine Frau mittleren Alters. Ihr schmales, gar mageres Gesicht wurde von braunen Haaren umrahmt, deren splissige Spitzen auf Höhe ihrer Schultern endeten. Als sie Joy entdeckte weiteten sich ihre blassen blaugrauen Augen in Überraschung. Die beiden Frauen verharrten für einen Moment. Joy tastete die Fremde mit warnenden Blicken ab und ergriff zuerst das Wort. Leise meinte sie:
    „Ich will dir nichts tun. Aber wenn du schreist, oder zu den Wachen rennst, wirst du mir keine andere Wahl lassen.“
    Die Frau blinzelte und nickte langsam, während ihr Blick auf Joys Krallen verweilte.
    „Du warst es also, die gestern Abend diesen Aufruhr verursacht hat?“
    Joy nickte gequält.
    „Leider. Diese Soldaten haben mich entführen wollen.“ Überrascht entgegnete die Frau:
    „Aber willst du denn nicht zurück in deine Welt? Du weißt doch schon, dass der König deine einzige Chance ist hier wieder wegzukommen, oder?“ Joy nickte, wollte etwas erwidern, wurde dann aber von ihrem knurrenden Magen unterbrochen. Darauf schmunzelte die Frau und meinte nach einem kurzen Zögern:
    „Wenn du mir hilfst eine der Kisten zu tragen, kannst du gerne mit mir frühstücken.“
    „Huh? Wirklich?“
    Die Frau lächelte und nickte. Darauf zogen sich Joys Krallen zurück, ihr Schwanz streckte sich freudig in die Höhe und sie erwiderte:
    „Das würde mich retten! Vielen, vielen Dank!“
    Die Frau winkte ab, schnappte sich eine Kiste und ging zurück ins Haus. Joy tat es ihr gleich und folgte ihr.


    Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss und Joy fand sich in einem niedrigen Lagerraum wieder, in dem mehrere Krüge und andere Kisten standen. Ein dichter Schleier aus den verschiedensten Gerüchen lag in der Luft und trieb Joy Tränen in die Augen. Sie rümpfte ihre empfindliche Nase und musste sich beherrschen nicht zu niesen. Mit einem breiten Grinsen registrierte die Frau das, beließ es aber dabei und bedeutete Joy ihr in den nächsten Raum zu folgen. Dankbar tapste sie der Fremden hinterher und fand sich in einer Küche wieder. Der Geruch hier war nach wie vor stark, aber nicht so penetrant, wie zuvor. Neugierig sah sich Joy um. Der Raum machte keinen gehobenen, dafür aber einen sauberen Eindruck. Die Wände bestanden aus einfachem, grauen Stein. An der Wand, die sich gegenüber von Joy befand, gab es zwei Feuerstellen, die sich neben einem langen Tisch, auf dem verschiedenen Kochutensilien lagen, befanden. Die rechte Wand war fast vollständig mit Schränken verschiedener Größen gespickt. Links neben Joy führte ein Flur weiter ins Haus hinein. Sie entdeckte dort zwei weitere Türen und eine Treppe, die nach oben führte. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch mit drei Stühlen.
    „Stell die Kiste doch bitte neben die andere Feuerstelle.“
    Die Stimme der Frau holte Joy zurück ins Hier und Jetzt. Hastig nickte sie und tat wie ihr geheißen. Dann beobachtete sie schweigend, wie die Frau ihre Kiste öffnete und das dort befindliche Feuerholz unter den Kessel auf die Feuerstelle packte. Dann richtete sie sich auf und fragte Joy freundlich:
    „Ich hoffe eine Suppe ist dir recht? Leider kann ich dir nichts Größeres anbieten, weil mich mein Meister sonst köpfen würde. Wir leben hier nicht in der besten Gegend und brauchen, alles um uns selbst über Wasser zu halten.“ Bescheiden antwortete Joy hastig:
    „Nein, gar nicht! Wenn es dir Umstände bereitet, brauchst du mir auch nichts zu geben.“
    „Du bist ein braves Mädchen“, meinte die Frau schmunzelnd, „Aber da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich muss schließlich auch etwas essen. Ob ich jetzt für eine Person oder zwei etwas koche, macht keinen großen Unterschied. Mein Meister wird’s wahrscheinlich nicht einmal merken. Und jetzt steh da doch nicht so doof rum! Setz dich. Fühl dich ganz wie Zuhause.“
    Joy nickte dankbar und ließ sich auf einem der Stühle nieder, während die Frau die Schränke nach verschiedenen Zutaten durchsuchte. Einige davon erkannte Joy. Zwiebeln, Lauch, es waren Pflanzen die es auch in ihrer Welt gab. Doch der Rest war ihr gänzlich unbekannt.
    „Darf ich dich was fragen?“
    „Natürlich, Mädchen. Ein Neuankömmling hat bestimmt einige Fragen“, meinte die Frau gut gelaunt.
    „Was ist das hier für eine Welt? Diese Göttin meinte es wäre die Welt hinter der Schwelle… Aber was bedeutet das? Warum sind hier so viele Menschen? Ich dachte der König würde sie zurückschicken.“
    Die Frau überlegte einen Moment, bevor sie antwortete.
    „Die Welt hier ist ein Wunsch. Und viele der Menschen hier sind auch nur Wünsche. Angeblich gab es einst jemanden, der sich eine Welt nur für sich gewünscht hat. Darauf hat die Göttin die Landschaft und Erde geschaffen. Dann kam ein Mensch durch das Tor, der sich ein Leben voller Magie wünschte. Darauf brachte die Göttin ihre Magie in die Welt. Nach vielen Jahren kam schließlich ein Mann, der sich wünschte König zu sein. Die Göttin gab ihm das Recht über die Menschen zu herrschen und seitdem ist er unser König. Währenddessen kamen auch immer Menschen, die sich die Rückkehr eines Gestorbenen wünschten, oder ein Kind, oder eine Schwester, oder einen Bruder wünschten. Doch die Göttin hat nur Macht in ihrer Welt. Würden die gewünschten Personen zurück in die andere Welt gehen, würden sie verschwinden. Als hätten sie niemals existiert. Und deswegen gibt es hier so viele Menschen. Viele haben entschieden bei ihren Geliebten zu bleiben. Und die Erwünschten haben ohnehin keine andere Wahl, als hier zu bleiben. Beantwortet das deine Frage?“
    Joy schluckte und nickte zögerlich.
    „Das war ein Haufen an Informationen“, gestand sie mit einem entschuldigenden Lächeln. Die Frau lachte, während sie ein unbekanntes Gemüse gekonnt in Streifen schnitt und in den Kessel gab.
    „Aber jetzt musst du mir auch die Frage von zuvor beantworten, Mädchen. Warum bist du vor den Soldaten weggelaufen?“
    „Ich habe jemanden, den ich unbedingt finden muss. Ich bin nur durch dieses verfluchte Tor gegangen, um ihn zurückzuholen und dafür zu sorgen, dass er sich nicht verändert.“
    Die Frau warf ihr einen kecken Blick zu.
    „War es dein Geliebter?“
    „Nein, mein Bruder!“, erwiderte Joy hastig, aber mit Bestimmtheit in der Stimme.
    „Wie langweilig…“, kicherte die Frau, „Aber gut. Und wie planst du ihn zu finden? Und was ist, wenn er bereits wieder in die andere Welt übergegangen ist und sich nun wundert, wo du abgeblieben bist?“
    „Ngh… Das… War alles nicht so geplant“, gestand Joy niedergeschlagen,
    „Ich konnte ja nicht wissen, dass ich in einer anderen Welt lande und zu einer halben Katze mutiere. Wie zum Teufel, soll man so etwas denn auch bitte einplanen?“
    „Mit anderen Worten bist du aufgeschmissen“, stellte die Frau sachlich fest. Hilflos nickte Joy und bohrte einen ihrer Eckzähne in ihre Lippe. Aber dann schwebte ein köstlicher Geruch aus dem Kessel zu ihr herüber und lenkte sie von ihren trüben Gedanken ab. Erwartungsvoll schnupperte sie immer wieder, wartete dabei aber geduldig bis die Frau ihr einen vollen Teller servierte.
    „Hau rein, ich hoffe es schmeckt dir“, meinte sie und wandte sich ab, um sich auch etwas zu nehmen. Joy ließ sich das nicht zweimal sagen und fing an zu essen. Der Geschmack war seltsam, aber ihr Magen nahm die warme Mahlzeit dankend entgegen. Doch dann verschwamm plötzlich die Welt vor ihren Augen.
    „Wa…“, entschlüpfte ihr noch, bevor die Schwärze sie überkam und sie ihr Bewusstsein verlor.

  • Kapitel 6 - Gefangen


    Also Joy erwachte, brauchte sie mehr als nur ein paar Minuten, um sich zu orientieren. Sie stöhnte, in ihrem Kopf hämmerte ein Presslufthammer von innen gegen ihren Schädel und ihr ganzer Körper war taub. Nur langsam kehrten genug ihrer Sinne zurück, damit sie erkennen konnte, dass sie gefesselt und geknebelt in einem dunklen Zimmer lag. Panik ergriff sie. Ihre Hände waren fest hinter ihren Rücken verschnürt und auch ihre Füße wurden durch ein Stück rauen Seils zusammengebunden. Sofort zerrte sie an ihren Fesseln. Der Presslufthammer in ihrem Kopf schaltete erbarmungslos in die nächste Stufe. Sie biss die Zähne zusammen, schmeckte den filzigen Stoff in völlig ausgetrockneten Mund. Doch die Fesseln saßen zu fest. Egal wie sehr sie zerrte, sie lockerten sich nicht. Ihr entglitt ein verzweifeltes Schluchzen, was durch den Stofffetzen in ihrem Mund zu einem gedämpften, undefinierbaren Laut wurde. Und plötzlich ging ein Ruck durch das Zimmer. Zuerst dachte Joy, dass es ihr Schwindel war, doch dann vernahm sie die dröhnenden Geräusche von Holz, das auf Stein traf. Das Ruckeln, Holpern und Dröhnen setzte sich fort und folterte ihr feines Gehör. Tränen stiegen in ihre Augen, als sie ihre Beine an den Körper zog und sich schützend zusammen rollte. Ihr Schwanz war zwischen ihren Beinen eingeklemmt und ihre Ohren lagen eng an ihrem Kopf an, während sie am ganzen Leib zitterte.


    Die Folter dauerte eine gefühlte Ewigkeit an. Doch dann hörte das Ruckeln schließlich auf und das Dröhnen verstummte. Vorsichtig drehte Joy den Kopf und richtete ihre Ohren ein Stückchen auf. Sie hörte Schritte. Sie gingen an ihr vorbei und dann vernahm sie das Rascheln von schwerem Stoff. Licht flutete den dunklen Raum und blendete Joy, was die Hammerschläge in ihrem Kopf nur noch weiter verstärkte.
    „Hm… Da habt ihr uns aber wirklich ein exotisches Exemplar gebracht. Das wird bei der Auktion einiges einbringen“, meinte eine fremde Stimme freudig. Joy kniff die Augen zusammen und starrte ins Licht, wo sich die Konturen von zwei Menschen abzeichneten.
    „Das hör ich gerne. Meine Dienerin hat sie vor wenigen Stunden aufgelesen. Ich hoffe doch, dass wir uns auf einen guten Preis einigen können. Solche Neuankömmlinge sind sehr selten. Das wissen wir beide!“, meinte die andere Gestalt und lachte. Die erste Stimme fiel mit ins Gelächter ein. Noch während sie am Lachen waren, spürte Joy, wie sich der hölzerne Boden unter ihr leicht neigte und ein dumpfes Knarren von sich gab. Eine der Gestalten hatte den Wagen betreten, kam auf Joy zu und schob sich vor die Lichtquelle.
    „Ist unser Kätzchen schon aufgewacht? Das ist schlecht. Wer weiß, was du tun wirst, sobald die Wirkung des Betäubungsmittels nachlässt?“


    Im nächsten Moment riss Joy ihre Augen voller Angst auf. Verzweifelte versuchte trotz ihrer Fesseln von dem Mann wegzukommen. Doch dieser lachte nur, ging vor ihr in die Knie und packte sie grob an den Haaren. Sofort schossen Joy Tränen des Schmerzes in die Augen, als er sie zu sich auf Augenhöhe hochzog. Sie gab protestierende Laute von, doch der Mann ignorierte sie. Dann kramte er aus seiner Manteltasche eine grobe, metallene Spritze hervor. Ohne zu zögern und auf Joys panisches Gewinde und Gezappel zu achten, stach er ihr die Spitze in den Hals und injizierte ihr den gesamten Inhalt. Es dauerte keine zwei Wimpernschläge, bis Joy die Auswirkungen spürte. Zuerst verflog der Schmerz. Eine völlige Leere, die ihr die Kontrolle über ihren Körper raubte, erfüllte sie bis in den letzten Winkel. Und dann schwand ihr Bewusstsein.


    Als sie wieder zu sich kam, war ihr Mund frei, ihre Hände waren über ihrem Kopf mit Ketten an ein Gestell gebunden und ihre Füße baumelten frei über dem Boden. Doch sie spürte keinen Schmerz. Sie spürte rein gar nichts. Langsam öffnete sie die Augen. Ihre Lieder waren schwer. Es kostete sie fast all ihre Kraft, um sie heben und sich in dem dunklen Raum umzusehen. Ihre Sicht war verschwommen, doch grobe Umrisse konnte sie erkennen. Der Raum war klein. Die Wände waren aus einem massiven dunkel braunen Holz und irgendwo über ihrem Kopf verbreitete etwas ein konstantes, schummriges Licht. Direkt vor ihr war ein Tisch, auf dem ein hölzerner Krug stand, der noch zur Hälfte mit einer grünlichen Flüssigkeit gefüllt war. Hinter diesem führte ein ebenfalls schwach beleuchteter Gang aus dem Zimmer hinaus. Langsam und unter Aufbietung all ihrer Kräfte drehte Joy den Kopf zur Seite. Da registrierte sie, dass sie nicht allein war. Neben ihr waren mehrere andere Gestelle, in denen andere Mädchen und Frauen gefesselt waren. Ebenfalls erkannte sie, dass diese Gestelle auf Rollen montiert waren. Die anderen Gefangenen waren alle noch bewusstlos. Joy wollte sie ansprechen, sie aufwecken, doch alles, was aus ihrer Kehle kam, war ein kaum vernehmliches Krächzen. Erneut traten Tränen in ihre Augen.


    Plötzlich vernahm sie Schritte. Aus dem dunklen Gang traten mehrere Personen heraus, die geschäftig die Gestelle zu verschieben begannen. Joy versuchte den Männern mit ihrem Blick zu folgen, doch ihr eingeschränktes Sichtfeld erlaubte es ihr nicht. Dann trat jemand vor sie, griff sie grob am Kinn und zwang sie nach vorne zu sehen. Es war ein Mann mit aufgedunsenem und kahlem Gesicht, der sie mit einem überlegenen Lächeln betrachtete.
    „Erstaunlich, dass die Droge schon ihre Wirkung verliert… Aber ändern wird es nichts. Bis du die Kontrolle über deinen Körper zurückerlangst, wirst du wahrscheinlich noch ein paar Stunden brauchen“, flötete er, als wäre es eine Sache, die es zu feiern galt. Joy wollte wieder etwas erwidern, doch auch diesmal versagte ihr ihr Körper den Dienst. Doch der Mann grinste breit und meinte:
    „Will da etwa jemand wissen, was mit ihm passieren wird?“ Er lachte laut.
    „In Suma gibt’s eine außergewöhnliche Gesellschaft. Wünsche, die in der ursprünglichen Welt nicht erfüllt werden können, sind hier möglich. Dementsprechend gibt es viele Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Und du wirst mir helfen jene Wünsche zu erfüllen und damit meinen Geldbeutel zu füllen.“
    Mit diesen Worten schnippte er mit den Fingern und Joys Gestell wurde aus dem Raum heraus geschoben. Dabei versuchte sie dem Mann noch einen möglichst hasserfüllten Blick zuzuwerfen. Doch die Leere hielt ihren Körper in einem eisernen Griff. So konnte sie nur dabei zusehen, wie sie in einen weiteren Raum gebracht wurde, der deutlich schmaler war. Dort wurde das Gestell wieder gestoppt und Joy konnte eine leise Stimme vernehmen:
    „Verkauft für 300 Gil!“ Es folgte eine Pause.
    „Und nun kommen wir zum Hauptevent des heutigen Abends.“ In diesem Moment wurde das Gestell wieder weiter den Gang entlang geschoben.
    „Sie ist ein Neuankömmling, die glücklicherweise gefangen genommen wurde, noch bevor sie beim König vorgestellt wurde.“
    Sie wurde von einer hellen Lichtquelle geblendet und schloss gepeinigt die Augen. Sie hörte noch ein Raunen mehrere Menschen, bevor die Stimme fortfuhr.
    „Meine Herren, wie ihr seht, ist sie eine junge Katzenfrau. Die erste, die je dieses Königreich betreten hat. Deswegen wird das Startgebot bei 400 Gil angesetzt! Darf ich um Ihre Gebote bitten?“
    Noch immer betäubt blinzelte Joy. Sie begriff die Worte. Doch die Droge verweigerte ihr jede Gefühlsregung. Selbst als sie langsam die verschwommenen Umrisse des Saals erkannte, die Blicke von hunderten Männern auf sich spürte, die sich gegenseitig überboten, war sie zu keiner Emotion in der Lage.
    „600! 650! 700!“
    Hilflos ließ sie ihren Kopf sinken.
    „800! 900!“
    Wieso hatte sie nicht auf Kyrill gehört? Warum hatte sie nicht einfach diese zwölf Minuten auf ihn gewartet?
    „2000…“
    Die Stimme war leise, doch deutlich. Ruhig und doch bestimmt. Freundlich und zugleich grausam. Warm, aber so kalt, dass sie Joys betäubten Körper zum Zittern brachte. Sie hob ihren Kopf und versuchte die Quelle der Stimme ausfindig zu machen, doch der Schwindel packte sie und ließ die Umrisse der Welt aufs Neue verschwimmen.
    „2000… Das Angebot steht bei 2000! Wer bietet mehr? Bietet wer mehr?“, stotterte der Auktionator überrumpelt. Doch auf niemand reagierte mehr auf seine Aufforderung.
    „1… 2… 3… Verkauft! Das Katzenmädchen geht an den Herrn mit den langen Haaren! Sie können sich die Ware am Ausgabestand abholen!“
    Mit diesen Worten wurde Joy von der Bühne wieder in die Dunkelheit geschoben. Sie schloss die Augen. Jetzt war alles vorbei.


    Hinter ihren geschlossenen Liedern spürte sie wieder Licht. Stimmen murmelten, ihre Fesseln wurden gelöst und bevor sie auf den Boden fallen konnte, wurde sie von zwei starken, aber verschwitzten Armen aufgefangen. Dann legte man ihr etwas über den Kopf, fesselte ihre Hände hinter ihrem Rücken, verband ihre Augen und legte ihr ein kaltes Halsband an.
    „Vielen Dank“, meinte die seltsame Stimme ihres Käufers. Sofort reagierte ihr Körper. Ein Schauer, ein Zittern, das die Betäubung aufhob und sie schaudern ließ, durchrieselte ihren Körper. Trotzdem öffnete hielt sie ihre Augen geschlossen. Sie wollte ihn nicht sehen. Jenen Mann, der glaubte sie wie eine Sklavin behandeln zu können.
    „Bitte geben Sie ihr jetzt noch das Gegengift. Ich habe keine Lust sie den ganzen Weg zu tragen.“
    „Sind Sie sicher? Wir wissen nicht, zu was dieser Neuankömmling alles in der Lage ist.“
    „Mit gefesselten Händen bestimmt nicht zu besonders viel. Ich werde schon mit ihr fertig.“
    „Wie Sie wünschen, Herr…“
    Damit wurde Joy grob am Kiefer gepackt und dazu gezwungen ihren Mund zu öffnen. Ihr kraftloser Widerstand bewirkte nichts und schon wenige Momente später, spürte sie wie eine geschmackslose Flüssigkeit ihren Hals herablief. Sofort setzte sie ihre Kehle in Brand. Sie hustete und schnappte dabei gierig nach Luft, als das Brennen ihre Lungen erreichte und sich von dort in ihren ganzen Körper ausbreitete. Doch mit dem Husten kehrte auch ihre Kraft und Kontrolle wieder. Aber damit auch der Schmerz. Ihr ganzer Leib pochte protestierend gegen die Behandlung, die ihr in den letzten Stunden zu Teil geworden war. Als ihr Peiniger ihren Kiefer packte und ihr erneut etwas in den Mund stopfen wollte, wehrte sie sich. Reflexartig schnellte ihr Kopf abwehrend zur Seite, sie riss ihrem Mund auf und biss zu. Die spitzen Zähne bohrten sich in das warme Fleisch der schwülstigen Hand. Der salzige Geschmack des Schweißes vermischte sich mit dem Blut zu einer ekelerregenden Brühe. Doch sie trieb ihre Zähne immer weiter. Der Mann schrie und brüllte. Er versuchte sie abschütteln. Riss seine Hand herum und verschlimmerte damit nur seine Schmerzen. Und dann sah Joy Sterne, trotz der Augenbinde. Ein dröhnender Schmerz füllte ihren Kopf aus, als dieser unter der Wucht eines Schlags zur Seite gerissen wurde. Schnell zog der Mann seine blutige Hand zurück und knurrte:
    „Verfluchtes Tier! Ich werde…“
    „Du wirst nichts. Ich habe sie nicht gekauft, damit du sie tot prügeln kannst“, schnitt die wundersame Stimme ihres Käufers dazwischen. Es herrschte einen Moment lang Stille, doch dann knurrte der Mann wütend:
    „Dann kümmere dich gefälligst selbst um ihre Abfertigung. Bei dem Temperament wird sie nach Hilfe schreien, wenn du ihr keinen Maulkorb verpasst.“ Damit entfernte er sich mit schweren Schritten. Doch Joy wagte es noch nicht aufzuatmen. Wimmernd legte sie ihre Ohren noch fester an den Kopf und klemmte ihren Schwanz zwischen ihren Beinen ein. Dann, ohne Vorwarnung, legte sich plötzlich eine Hand auf ihren Kopf. Sanft und ohne Gewalt.
    „Der Herr hatte leider Recht. Ohne Knebel kann ich dich leider nicht mitnehmen. Schließlich möchte ich nicht hier auffliegen. Das verstehst du doch, oder Joy?“ Als er ihren Namen erwähnte, zuckte Joy zusammen.
    „Woher…“, entfuhr ihr es sofort, doch ihr Käufer nutzte die Chance und stopfte ihr das Stück Stoff in den Mund.
    „Tut mir Leid, Kleines, aber wie ich schon sagte. Du musst verstehen, dass ich meine Gründe habe. Es ist einfach nicht der richtige Ort, um sich zu unterhalten“, erklärte ihr Käufer ruhig, während er den Knebel vervollständigte. Dann griff er hinter sie und zog ihr etwas, das sich ebenfalls anfühlte wie Stoff über den Kopf. Da registrierte Joy erstmals, dass ihr ein dünner Umhang oder ähnliches umgelegt worden war.
    „Kannst du stehen?“, fragte ihr Käufer und griff ihr dabei auffordernd unter die Arme. Langsam nickte Joy. Ihre Beine wankten, aber sie würde gehen können.
    „Tapferes Mädchen“, meinte der Mann sanft und liebkoste dabei ihr Gesicht mit einem seiner Finger,
    „Und nun komm. Ich wette, du möchtest auch nicht länger als nötig hier verweilen, oder?“ Sofort rieselte ein kalter Schauer über ihren Rücken. Dennoch gehorchte sie und nickte wieder. Dann wurde ein leichter, aber unnachgiebiger Zug auf ihren Nacken ausgeübt, der ihr die Richtung wies. Während sie so ihrem Käufer folgte, fing ihr Brustkorb an zu beben und ihre Augenbinde tränkte sich mit ihren Tränen. Verstummelte Laute drangen durch ihren Knebel, die ihr Käufer jedoch komplett ignorierte.

  • Kapitel 7 – Hinter Gittern


    Irgendwann spürte Joy wieder frische Luft auf ihrer brennenden Haut, was ihre Schmerzen leicht linderte. Trotz dieser Besserung waren sie noch wie vor so präsent, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Sie konnte nur folgen. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Ihr Käufer sprach nicht, ignorierte ihre Versuche auf sich aufmerksam zu machen und zog sie mit ihrem Halsband durch die unbekannten Straßen. Doch dann, irgendwann, an irgendeinem Ort, stoppte er.
    „Der Ort müsste reichen. Ich nehme dir jetzt die Augenbinde ab, also erschreck dich nicht", erklärte die Stimme.
    Schnell nickte Joy. Sie spürte seine Hände und bemerkte dabei das erste Mal bewusst seinen Geruch, der in ihr stumme Verwirrung auslöste. Er roch gut, wundersam wie seine Stimme. Zuerst hatte sie an Rosen gedacht, doch dann entdeckte sie den Duft von Lavendel, nur damit dieser im nächsten Moment zu einem Hauch von Jasmin verwandeln konnte. Und dieser Wechsel setzte sich fort. Immer, wenn sie meinte den Duft erkannt zu haben, entdeckte sie einen neuen Geruch, oder alles Vorhandene wandelte sich plötzlich in etwas völlig anderes.
    Dann wurde ihr die Augenbinde abgenommen. Licht flutete ihre Wahrnehmung. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen und versuchte ihren Käufer zu erkennen. Er verweilte mit dem Gesicht direkt vor ihr. Die Umrisse wurden klarer und sie erkannte einen goldenen Schwall von Haaren, die in einem lockeren Pferdeschwanz einen Großteil seiner linken Schulter bedeckten. Dann trafen sich ihre Blicke. Joy erstarrte. Seine bernsteinfarbenen Augen betäubten sie. Schweißperlen bildeten sich an ihrem Körper und ihr Atem beschleunigte sich. Er lächelte, offenbarte Zähne aus reinem Weiß und strich dann mit seinen Fingerkuppen über ihre Wangen, hinauf zu ihren Schläfen. Joy zitterte und errötete. Vorsichtig richtete sich die Spitzen ihrer Ohren wieder auf, ihre Schwanzspitze fing an leicht zu zucken. Doch als sie ihren Mund öffnete, legte ihr der Mann einen Finger auf die Lippen. Währenddessen war seine andere Hand weiter nach oben gewandert, hatte sich in ihren Haaren vergraben und fing an Joy hinter den Ohren zu kraulen. Sofort entspannte sie sich. Zusammen mit ihrem Mund schlossen sich auch ihre Augen und ihr Kopf bewegte sich zögerlich in die Richtung der kraulenden Hand.
    Darauf entschlüpfte dem Mann ein leises Lachen. Joy öffnete die Augen wieder und gab ein paar fragende Laute von sich. Das Kraulen wurde stärker. Ihr Körper erzitterte, ihre Schultern sackten beinahe kraftlos nach unten.
    „Lass mich raten. Du hast gefragt, wer ich bin?", sinnierte der Mann amüsiert, während er Joy weiter wie eine Hauskatze kraulte.
    „Jemand, der sich fragt, ob er sich seinen lang ersehnten Wunsch erfüllen soll, oder nicht."
    Joy wollte wieder etwas sagen, doch die Hand hinter ihren Ohren lenkte sie ab. Er hatte damit angefangen das flauschige Fell ihrer Ohren mit liebevollen Streicheleinheiten zu liebkosen. Für einen Moment vergaß sie ihre Situation und seufzte genüsslich. Doch dann wurde sie von einem Flüstern zurück in die Realität gerissen:
    „Es ist wirklich ein Jammer. Er hat dich nicht verdient..." Mit brennenden Wangen und Ohrläppchen begehrte sie auf, auch wenn ihr Knebel keinen verständlichen Laut passieren ließ.
    Das Lächeln des Mannes wurde breiter und seine streichelnden Bewegungen stoppten. Er legte Joy seine Hand auf den Hinterkopf, drückte sie sanft nach vorne und beugte sich gleichzeitig zu ihr herab, sodass sie seinen Atem spüren konnte.
    „Du bist ein kleines Hauskätzchen, das sich für einen Tiger hält", langsam fuhr er mit seinen Fingern die Seiten ihres Gesichts nach,
    „Nur leider siehst du das nicht ein... Bald werde es dir zeigen... Sehr bald..."
    Während er sprach, wanderte seine Rechte von ihrem Hinterkopf über ihren Rücken und legte sich besitzergreifend auf ihre Hüfte. Danach zog er ihren zitternden Körper zu sich heran und flüsterte ihr ins Ohr:
    „Dann bist du wahrlich mein und ich bin frei. Ohne Ketten und falschen Glauben."
    Doch Joy war zu verwirrt, um seine Worte wahrzunehmen. Ihr ganzer Körper rebellierte gegen ihren Verstand. Der unbeschreibliche Duft des Fremden umschmeichelte sie, legte ihren Geist in ein blühendes Feld roter Rosen. Sie spürte seine Wärme, sehnte und ekelte sich zur gleichen Zeit, genoss und verfluchte ihre Hilflosigkeit. Sie protestierte mit unverständlichen Lauten und versuchte irgendwie von dem Mann davonzukommen. Jedoch verhinderten ihre Fesseln jeglichen Erfolg ihres Widerstands. Plötzlich herrschte für einen Augenblick Stille. Doch dann gab ihr der Mann einen beherzten Klaps auf den Hintern. Sofort entschlüpfte ihr ein Laut der Überraschung, der trotz Knebel stark dem Miauen einer Katze ähnelte. Der Mann lachte erneut, streichelte die Stelle, die er geschlagen hatte sanft, worauf Joy flehend die Augen schloss. Schließlich entfernte der Fremde sich wieder von ihr, während er jeden Millimeter ihres Körpers aufs Genauste musterte.
    „Aber bis es soweit ist, habe ich keine andere Wahl. Auch wenn ich dich jetzt gerne für mich behalten würde, muss ich meinen Job erledigen", erklärte er, wobei das Lächeln von seinem Gesicht verschwand.
    Mit diesen Worten zog er sanft an dem Seil, das an ihrem Halsband festgebunden war. Mit langsamen, gar bedächtigen Schritten, ging er zu einem Holzpfeiler, der das schäbige Vordach eines nahen Hauses stützte. Dabei wanderte Joys Blick zum Himmel, wo sie die Sterne und zwei Monde entdeckte. Verblüfft blinzelte Joy und sah sich suchend nach der Lichtquelle um, die es geschafft hatte sie mitten in der Nacht zu blenden und die dreckige kleine Seitenstraße auf der sie sich befand, zu erhellen. Ihr Kinn klappte herunter, als sie eine schwebende Lichtkugel entdeckte, die brav dem Fremden zu folgen schien. Erst als der Mann anfing ihre Leine an dem Pfeiler festzubinden, überwand sie ihre Überraschung. Es war ein Ausbruch ohne Vorwarnung. Mit all ihrer Kraft warf sie sich nach hinten, bevor er den Knoten vervollständigte. Doch sie hatte keine Chance. Es reichte ein einziger Ruck am Seil, der sie zurückholte. Sie verlor das Gleichgewicht und landete rückwärts auf dem Hosenboden. Tränen stiegen in ihre Augen und ihr schmerzender Kehlkopf zwang sie zu husten. Ungerührt nutzte der Mann seine Chance und vervollständigte seinen Knoten. Dann wandte er sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck wieder an Joy, streichelte ihren Kopf und meinte:
    „Sein ein braves Kätzchen und bleib hier, bist du abgeholt wirst."
    Joys Augen weiteten sich ängstlich und wimmernde Laute entglitten ihr. Währenddessen drehte der Mann seine Hand um und ließ über seiner Handfläche eine goldene Kugel aus Licht entstehen.
    „Ich meinte es wirklich ernst. Das fällt mir nicht leicht. Am liebsten würde ich mitnehmen. Aber das kann ich nicht. Es ist mein Job...", erklärte er mit einem gequälten Lächeln. Dabei stieg die Lichtkugel wie von Geisterhand bewegt in die Luft. Zuerst langsam, doch dann immer schneller begann sie in Richtung Himmel zu rasen. Schweigend beobachtete Joy das unmögliche Schauspiel. Erst als die Kugel mehrere Meter über den Dächern der Häuser schwebte und urplötzlich in einer hellen Lichtfontäne explodierte, riss sie sich die Gegenwart des Mannes zurück. Sofort begehrte sie erneut auf. Riss an ihren Fesseln und schrie in ihren Knebel. Doch sie verstummte, als der Körper des Mannes begann sich aufzulösen. Kleine Lichtpartikel, die sich auch schon beim Tor der Wünsche gesehen hatte, wurden von ihm abgesondert. Sein Körper wurde transparent und bevor er völlig verschwand meinte er:
    „Bedanke dich bei der Person, die du zu retten erwünscht."
    Verdattert starrte Joy auf die Stelle, wo er gestanden hatte.
    Nur einen Wimpernschlag später fanden Tränen ihren Weg über ihr Gesicht, tropften herunter, nur um dann im erdigen Boden zu versickern.
    Plötzlich richteten sich ihre Ohren ruckartig auf. Das Scheppern von Metall, Schreie und Rufe drangen zu ihr durch. Sofort versuchte sie wieder aus ihren Fesseln zu entkommen. Doch ihre Hände waren noch wie vor fest verschnürt und das Seil widerstand all ihren Bemühungen. Es dauerte nicht mehr lange, bis die Wachen die kleine Seitenstraße erreicht hatten. Joy fauchte, versuchte so bedrohlich wie nur möglich zu wirken, doch der Knebel erstickte all ihre Bemühungen. Die Wachen näherten sich immer weiter. Sie hatten nicht einmal ihre Waffen gezogen. Aufmerksam suchten sie die Gegen ab, bevor sie sich an Joy wandten. Ein Soldat trat hervor und streckte seinen Arm in Joys Richtung und zeigte ihr damit seine Handfläche, wo ein bläuliches, ellipsenförmiges Licht schwach zu scheinen anfing. Nach wenigen Momenten ballte der Soldat seine Hand zu einer Faust. Das Licht erstarb und er meinte zu dem Hauptmann der kleinen Truppe:
    „Sie hat keinerlei magischen Fähigkeiten. Jemand anderes muss den Zauber gewirkt haben."
    Der Hauptmann trat vor und bedachte die wimmernde Joy mit einem langen Blick. Dann meinte er mit kalter Stimme:
    „Schmeißt sie ins Gefängnis und informiert den König. Wer auch immer der Magier war, er wird bereits ein Versteck gefunden haben."
    Nach einer Pause, die Joy einen kalten Schauer über den Rücken jagte, fuhr er fort:
    „Und falls der Neuankömmling nicht freiwillig reden will, werden sie zum Reden bringen. Unsere Spezialisten haben da ihre Methoden."
    Joy wimmerte, doch einer der Soldaten ergriff das Seil, zog einmal kräftig daran und zwang sie damit zum Folgen.


    Da ihre Sicht diesmal nicht von einer Augenbinde blockiert war, konnte Joy wenigstens erkennen, wohin sie geführt wurde. Sehr schnell ließen sie die Seitengassen und dunklen Bereiche der Stadt hinter sich, um die Hauptstraße zu betreten, die einer geraden Linie direkt zum Palast führte. Joy fühlte sich, wie auf dem Präsentierteller. Überall erkannte Gesichter in den Fenstern der teils mehrstöckigen Steinbauten, die sich entlang der gepflasterten Straße aneinanderreihten. Beschämt wich sie den Blicken aus, indem sie den Boden fixierte.


    Die Prozession dauerte noch einige Minuten, bis sie schließlich den Palast erreicht hatte. Doch Joy hatte keine Augen für die Pracht die sich ihr zeigte. Die hohen Türme drohten sie zu erdrücken, die goldenen Verzierungen, die sich über die gesamte Außenwand zogen, waren matt und käsig, die aufwendig bemalten Fenster zeigten Szenen von Tod und Verderben. Deswegen war sie auch nicht enttäuscht, als der Soldat sie nicht durch das Haupttor, sondern durch einen Seiteneingang in das riesige Gebäude führte.


    Die schwere Holztür fiel hinter mit einem lauten Quietschen ins Schloss, was Joy zusammenzucken ließ. Ihre Ohren und damit ihr Kopf schmerzten, während sie von der Wendeltreppe tief unter die Erde geführt wurde.
    Am Ende der Treppe angekommen fand sie sich schließlich in einem dunklen Gang wieder. Rechts und links von ihr erstreckten sich angerostete Zellengitter hinter denen eine schier undurchdringliche Finsternis lauerte. Der Soldat führte sie weiter, bis zum Ende des Gangs. Dort angekommen schloss er die Zelle links von Joy auf, schubste sie hinein und verriegelte das Tor. Sofort begehrte Joy auf und ließ gedämpfte Laute ertönen, die man gerade eben so als Fauchen identifizieren konnte. Doch der Soldat meinte nur höhnisch:
    „Mach es dir bequem. Morgen im Laufe des Tages wird dich der König begutachten."
    Mit diesen Worten verschwand der Soldat und ließ die noch immer wild protestierende Joy allein zurück. Erst als er die Tür hinter sich wieder ins Schloss fallen ließ, verstummte sie. Zuerst starrte sie nur ins Leere, doch dann erfasste allmählich ein Beben ihren gesamten Körper. Tränen, zuerst nur wenige Tropfen, dann ein reißender Strom, bahnten sich ihren Weg über Gesicht und benetzten den kalten Steinboden. Ihr Brustkorb bebte, ihre Schultern zuckten unkontrolliert auf und ab. Und dann brach es aus ihr heraus. Sie fiel auf die Knie und kauerte sich zusammen, während sich durch den Knebel undefinierbar gemachte Laute mit ihrem wilden Schluchzen vermischten.
    „Reiß dich zusammen! Hier versucht jemand zu schlafen...", ertönte plötzlich eine Stimme. Noch immer schluchzend hob Joy ihren Kopf und starrte überrascht in die gegenüberliegende Zelle, wo sie eine verschwommene Bewegung ausmachte.
    „Es ist ja nicht so, als ob du morgen geköpft werden würdest", murrte die Stimme. Trotz nach wie vor hüpfendem Brustkorb und fließenden Tränen zwang sich Joy dazu ihr Schluchzen zu unterdrücken. Ihr Blick ruhte ganz auf der Person in der anderen Zelle, die soeben an die Gitterstäbe trat und verschlafen zu herüber spähte. Sofort erkannte sie die vertrauten, wenn auch sehr müden Gesichtszüge und schrie gegen den Stoff an:
    „Hmm! Mhhh! Hmmhmmm mhhh!"
    Kyrill blinzelte noch einmal und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Danach starrte er die aufgeregte und noch immer weinende Joy mehrere Minuten an, bis sich seine Augenbrauen langsam in die Höhe bewegten.
    „Das darf doch nicht wahr sein... Joy?"
    Sofort richtete sich ihre Ohren voller freudiger Erregung auf und ihr Schwanz reckte sich kerzengerade in die Höhe. Heftig nickte sie und versuchte ihn zu bestätigen:
    „Mhh! Mhh! MhhhmmmHmmm!"
    Darauf fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht und musterte Joy durch seine gespreizten Finger mit einem resignierenden Ausdruck.
    „Warum hast du nicht auf mich gehört?"
    „Hmm! Mhh hmmm mhhmhn hmmnnn!"
    Kyrill seufzte und strich sich darauf durch die langen schwarzen Haare. Dann trat er einen Schritt zurück, stellte sich vor das Schloss seiner Zelle und murmelte:
    „Eigentlich hätte ich gerne noch ein bisschen Zeit gehabt, um mich es ein bisschen besser kontrollieren zu können, aber du hast meine Planung grandios über den Haufen geschmissen."
    Joy verstummte. Gebannt folgten ihre Augen seiner Hand, die einen tellergroßen Kreis beschrieb. Sobald er die Form geschlossen hatte, glühte der Kreis einmal kurz in einem kräftigen Rot auf. Danach wurde das Licht durch einen in sich wirbelnden, aber der Form treu bleibenden, schwarzen Nebel ersetzt. Kyrill malte weitere Formen in den Kreis hinein, bis Joy ein Pentagramm erkennen konnte, dessen Spitze nach unten deutete. Die Innenräume des Pentagramms schmückte er noch mit Symbolen aus, die Joy an Runen erinnerten. Sobald er zufrieden mit seinem Werk war, machte er eine wischende Handbewegung und der Kreis mitsamt des Pentagramms fing an sich zu drehen und zu schrumpfen, bis es in das Schlüsselloch der Zellentür passte.
    „Zerstöre", flüsterte Kyrill mit kaum vernehmbarer Stimme. Sofort fing das Schloss an rot zu glühen. Ein leises Knirschen ertönte. Dann ein Zischen und Knarren. Kyrill lächelte und übte einen sanften Druck auf die Zellentür aus. Quietschend schwang sie auf und Kyrill betrachtete für einen Moment gedankenverloren das verbrannte Metall.
    „Mmhhh Mhmmm!", protestierte Joy und holte ihn damit wieder zurück in die Realität.
    „Tschuldige, aber du willst doch nicht in die Luft gejagt werden, oder?", meinte Kyrill lächelnd, während er die Prozedur an Joys Zellentür wiederholte. Hastig schüttelte diese den Kopf rutschte schnell von der Tür weg.
    „Zerstöre!"
    Diesmal war der Knall ein bisschen lauter, sodass Joy erschrocken zusammenzuckte. Rötlicher Rauch wallte aus dem Schloss und es roch streng nach Schießpulver. Dann zog Kyrill die Tür auf und setzte im Schneidersitz vor Joy auf den Boden. Schweigend suchte sie seinen Blick, der langsam über ihren Körper wanderte, wobei er an ihren Ohren, ihrem Schwanz und ihren neuen Haaren hängen blieb. Er kratzte sich am Kopf und schüttelte seufzend den Kopf.
    „Du bist ein dummes Mädchen", stellte er sachlich fest, während er ihren Knebel löste. Joy hustete und versuchte mit aufwendigen Bewegungen ihrer Zunge die Überreste des Stoffs aus ihrem Mund und aus den Zwischenräumen ihrer Zähne zu entfernen.
    „Wirklich... Was hast du dir dabei gedacht?"
    „Das... Dieses Tor... Ich...", stammelte sie und wandte dabei ihren Blick von seinem Gesicht, um den Boden anzustarren. Währenddessen versuchte Kyrill ihre Handfesseln zu lösen.
    „Ich wollt nicht, dass du dich veränderst", flüsterte sie schließlich mit roten Backen. Da lösten sich ihre Fesseln und Kyrill seufzte. Sie rieb sich die schmerzenden Handgelenke und wagte es wieder zu ihm aufzuschauen, allerdings nicht ohne ihren Kopf einzuziehen, als würde sie eine Schelte erwarten.
    „Du machst dir immer genau dann sorgen, wenn sie völlig unberechtigt sind", meinte Kyrill sanft und streichelte ihr liebevoll über den Kopf. Sofort entspannte sich Joy. Doch das machte den Weg frei für einen weiteren Ausbruch. Der Strom der Tränen fing wieder an zu fließen und ihr Schluchzen erfüllte den Raum. Im nächsten Moment schmiegte sie sich eng an Kyrill, vergrub ihr Gesicht in seiner Brust, krallte sich in den schwarzen Stoff seines Shirts und erklärte mit verweinter Stimme:
    „Ich wurde verwandelt, gejagt, betäubt, versklavt, gekauft, freigelassen, wieder eingefangen und eingesperrt. Und alles nur wegen dir. Und du sagst, es wäre nicht nötig gewesen? Das ist lustig... Idiot! Arsch! Voll..."
    Kyrill ließ sie verstummen, indem er seinen Arm um sie legte und sie näher an sich heran zog. Dabei kraulte er sie weiter hinter den Ohren und flüsterte:
    „Ich weiß, ich weiß... Aber ich habe mich doch noch nie von Geschichten und Gerüchten unterkriegen lassen, oder?"
    Doch Joy klammerte sich nur fester an ihn. Ihr Seufzen wurde leiser und der Tränenstrom ebbte langsam ab.
    „Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Mir geht's gut. Die Göttin der Schwelle hat sich von mir um die Nase führen lassen und mir die Magie gegeben, die ich beweisen wollte. Ich kann uns hier rausbringen."
    Aber auch dieses Mal verharrte Joy schweigend an Kyrill geschmiegt. Ihre Tränen waren versiegt, ihre Augen geschlossen und ihre Krallen bohrten sich weiter in Kyrills Kleidung.
    „Joy?"
    Plötzlich ging ein sanftes Vibrieren von ihrem Brustkorb aus und ein wohlgefälliges Schnurren ertönte. Verdattert blinzelte Kyrill und starrte das Mädchen fassungslos an. Joy vergrub ihr Gesicht weiter in seiner Brust. Erst nachdem Kyrill ein gedämpftes Lachen entschlüpfte, lugte sie schüchtern mit aufgeblasenen Backen zu ihm hoch.
    „Du bist wieder am Puffeln", meinte er lächelnd, während er ein Ohr besonders intensiv kraulte und sie damit zum Schließen ihres rechten Auges brachte.
    „Mit Recht! Immerhin bist du es Schuld, dass ich dazu überhaupt in der Lage bin!", beschwerte sie sich halbherzig und drückte sich noch enger an ihn, worauf dieser verstummte. Er runzelte die Stirn, als wolle er sich an etwas Wichtiges erinnern.
    „Kyrill? Alles in Ordnung?", fragt Joy mit einem Anflug von Panik. Ernst erwiderte er ihren Blick und fragte:
    „Das... sind das deine Brüste die ich da spüre? Die... waren doch nicht immer so groß, oder?"
    Jetzt war es Joy die verdattert blinzelte. Dann zuckte ihre Schwanzspitze einmal verräterisch und die Röte schoss ihr ins Gesicht. Ihre Krallen bohrten sich durch den Stoff in seine Haut und ein leises Fauchen übertönte seinen Ausruf der Überraschung.
    „Ah, ich hab mich doch nur gewundert! Vorher hattest doch nichts... Aua, ganz ruhig Joy. Ich entschuldige mich ja schon. E-es tut mir leid!"
    Kyrill löste die Umarmung und versuchte Joy an den Handgelenken zu packen, um ihre Krallen aus seiner Haut zu lösen, doch sie nutzte die Gelegenheit und biss ihm leicht in den Arm.
    „Es tut mir leid! Es kommt nicht wieder vor, ich verspreche es!", heulte Kyrill wie ein geschlagener Wolf, während er nach hinten auf den Rücken fiel und Joy damit auf sich zog. Noch einen Moment ließ Joy nicht locker, zeigte dann aber Erbarmen und löste sowohl ihre Krallen, als auch ihren Biss. Erleichtert seufzte Kyrill und hob den Kopf, um Joys Blick zu suchen. Nach wie vor lag sie auf ihm und sah ihn mit einem lauernden Ausdruck an, während ihre Pose ihm den ersten direkten Einblick auf ihr Dekolleté gestattete.
    „Ich war nur überrascht...", rechtfertigte sich Kyrill, ohne seine Augen von dem ungewohnten Anblick losreißen zu können.
    „Die Göttin hat mich nur so verwandelt, weil du mal wieder auf deinen Willen bestanden hast. Du kannst froh sein, wenn ich dir nicht dein ganzes Gesicht zerkratze!"
    „Schon gut, ich hab´s verstanden. Ich schulde dir etwas, sobald wir wieder zuhause sind, richtig?", beschwichtigte Kyrill weiter und fing dabei wieder an ihre Ohren zu kraulen. Schnurrend erwiderte sie:
    „Das will ich doch hoffen."
    „Gut... Dann würde ich sagen, dass wir aufhören zu kuscheln. Ich finde es zwar gerade auch furchtbar bequem, aber das bringt uns nicht zurück", schlug Kyrill lächelnd vor, worauf Joy nickte und sich zögerlich von ihm löste. Sie standen auf und bevor sie die Wendeltreppe betraten, erklärte Kyrill:
    „Unser Ziel ist der König. Soweit ich weiß ist er der einzige in diesem Königreich, der die Macht besitzt ein Portal in unsere Welt zu öffnen."
    „Du willst doch nicht etwa...", flüsterte Joy entsetzt. Doch Kyrills gefährliches Lächeln ließ sie verstummen.
    „Ganz Recht. Der Typ wollte, dass ich ihm meinen erfüllten Wunsch aushändige und dafür würde er mich zurückschicken. Oder ich könnte ihn behalten und ewig als sein Untertan leben."
    „Aber du hast natürlich nicht zugestimmt und bist im Kerker gelandet."
    „Genau. Wie gesagt Worte haben mich noch nie kleingekriegt. Als ob der Königstitel eine Ausnahme wäre."
    „Manchmal bin ich dann doch froh darüber, dass du ein Idiot bist."
    „Sonst säßest du jetzt hier fest. Aber lass uns die Einzelheiten später klären. Wir sollten erst einmal dafür sorgen, dass wir hier raus kommen."

  • Kapitel 8 – Samoran


    Frische Luft kitzelte ihre Nase, als Joy Kyrill ins Freie folgte. Die Tür zum Kerker schloss sie möglichst leise hinter sich und wandte sich dann wieder an Kyrill.
    „Du kennst nicht zufällig einen anderen Weg in den Palast, als den Haupteingang?", fragte er.
    Nervös schüttelte Joy den Kopf.
    „Ich wurde direkt hier her geführt."
    „Schade. Das hätte uns geholfen... Aber egal. Ich wurde der Witzfigur von König bereits zwei Mal vorgeführt. Von daher habe ich eine Vorstellung, wie es innerhalb der Eingangshalle aussieht."
    Joy fasste sich ans Handgelenk und fragte mit einem ungläubigen Ausdruck in den Augen:
    „Das ist nicht dein Ernst? Du willst durch den Haupteingang in den Palast einbrechen? Du bist verrückt! Das kann doch nur schief gehen!"
    Amüsiert verzogen sich seine Mundwinkel zu einem gefährlichen Lächeln, als er erwiderte:
    „Hast du einen besseren Vorschlag? Wir sind schon aus unseren Zellen ausgebrochen. Warten wir, werden die Wachen uns jagen und es wird schwer überhaupt an den König ran zu kommen. Aber jetzt haben wir den Überraschungsvorteil. Schaffen wir es unbemerkt zu ihm zu kommen, sind wir schon so gut wie zu hause."
    „Und wie willst du ihn bitte finden? Wir haben doch keine Ahnung, wo sein Zimmer ist!"
    „Das ist das kleinste Problem."
    „Huh?"
    „Wir folgen einfach dem Prunk. Glaub mir. Wahrscheinlich ist sein Gemach sogar das goldene Zentrum des Ganzen Palasts", erklärte Kyrill selbstsicher. Doch Joys Blicke sprachen weiterhin von Unbehagen und Angst. Er musterte sie noch einen Augenblick, dann meinte er:
    „Also ich gehe. Du kannst gerne irgendwo warten, bis ich dich wieder auflese. Es könnte nur ein bisschen dauern."
    Verdattert blinzelte Joy, senkte dann aber ihren Blick und meinte kleinlaut mit hängenden Ohren:
    „Dummkopf... Ich will nicht alleine sein... Nicht in dieser Welt, nicht mit diesem Körper, nicht bei all den kranken Wünschen, die in dieser Stadt ihre Erfüllung gefunden haben..."
    Dann warf sie ihm einen glühenden Blick zu und sagte:
    „Außerdem bist du es überhaupt erst schuld, dass ich hier gelandet bin! Du hast die Pflicht auf mich aufzupassen! Du darfst mich nicht alleine lassen!"
    Ihm entschlüpfte ein leises Lachen, während er sich umdrehte und den ersten Schritt in Richtung des Haupttors machte.
    „Wie mein Kätzchen wünscht. Halt dich dicht hinter mir und versuch keine Geräusche zu machen. Wenn es zu einem Kampf kommen sollte, werden wir ein großes Problem haben."
    Wieder nickte Joy und heftete sich an seinen Rücken.


    Schleichend erreichten sie das Haupttor und entdeckten einen einzigen Soldat, der breitbeinig den Eingang bewachte. Kyrill lugte noch um die Ecke der Mauer, als Joy bereits flüsterte angespannt:
    „Und was machen wir jetzt, Herr Schlaumeier?"
    Doch Kyrill drehte sich nur zu ihr um, bedeutete ihr leise zu sein und wandte sich dann wieder der Wache zu. Sein Finger beschrieb zuerst einen großen und dann einen etwas kleinere Kreis. Wieder bildete sich der schwarze Nebel, der sich jedoch diesmal immer weiter verdichtete, bis der Raum zwischen den beiden Kreisen von einem tiefen, schier undurchdringlichen und glatt wirkenden Schwarz erfüllt war. Joy schluckte und starrte gebannt auf das Gebilde, als Kyrill es mit einer Handbewegung in die Höhe schickte und über den Soldaten manövrierte.
    „Du wirst doch nicht...", stieß Joy entsetzt aus, doch da war es schon zu spät. Innerhalb eines Wimpernschlags hatte Kyrill die Schlinge über den Helm des Soldaten gleiten lassen und sie bis zu seinem Hals herunter gebracht. Der Soldat reagierte noch, indem er seine Hand hochschnellen ließ. Doch er stoppte mitten in der Bewegung. Die Schlinge hatte sich in einem einzigen Ruck zugezogen und den Kopf sauber vom Torso getrennt. Die Rüstung schwankte. Aber bevor sie mit lautem Geschepper zu Boden fiel, zog Kyrill einen weiteren Kreis und ließ ihn den Körper auffangen.
    „Kyrill!", spie Joy spitz, voller Entsetzen, aus und sah ihn fassungslos an.
    „Keine Sorge", meinte dieser unberührt, während er erleichtert ausatmete,
    „Er ist..."
    „Er ist tot verdammt! D-du hast ihn geköpft! D-u du...", unterbrach sie ihn hysterisch. Doch er schüttelte nur den Kopf und deutete auf den Körper.
    „Siehst du irgendwo Blut?"
    Joy zwang sich seiner Geste mit den Blicken zu folgen. Sofort klappte ihr Kinn herunter. Innerhalb der Rüstung war nichts außer Luft. Kein Kopf, kein Hals, kein Zeichen von Leben.
    „W... Was? Was sind die?", stotterte sie nicht weniger hysterisch.
    „Ich habe keine Ahnung. Ich tippe darauf, dass sie Wünsche sind, die sich der König angeeignet hat. Als die mich gefangen nehmen wollten, habe ich einige von denen ausgeschaltet. Deswegen wusste ich, dass ich niemanden umbringen würde."
    „Jag mir doch nicht so einen Schrecken ein! Idiot!", fuhr Joy ihn an, wurde darauf aber direkt wieder kleinlaut und wandte ihren Blick zum Boden.
    „Du hast mir versprochen es niemals wieder zu tun..."
    „Hab ich doch nicht", meinte Kyrill besänftigend,
    „Aber so ganz stimmt es auch nicht. Du weißt, dass es eine Ausnahme gibt."
    Wieder sah Joy ihn an, puffelte sich auf und meinte:
    „Wie auch immer... Lass uns lieber weitergehen! Wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller."
    „Recht hast du."
    Damit versteckte Kyrill den leeren Körper hinter kniehohen Blumenbeet, das in gelblichem Sandstein gefasst war.
    „Glaubst du wirklich, dass ihn dort niemand finden wird?", fragte Joy nervös und erntete damit einen skeptischen Blick.
    „Natürlich wird er gefunden werden. Aber es ist das beste Versteck, was uns zur Verfügung steht. Ich hoffe nur, dass es uns die Zeit geben wird, die wir brauchen werden."
    „Du hättest das ruhig etwas beschönigen können!", beschwerte sich Joy kleinlaut und rückte dichter an seinen Rücken. Kyrill seufzte nur und setzte seinen Weg fort.
    Nachdem sie das Tor passiert hatten, zog er Joy direkt links hinter eine Säule, wo er sich an den kalten Stein drückte und vorsichtig in den Raum hinein lugte. Es war eine Halle von atemberaubenden Ausmaßen. Wahrscheinlich hätte ein Fußballfeld und ein Kirchenturm hineingepasst. Doch dem nicht genug, lag die ganze Halle in einem goldenen Schleier. Die Innenwände waren von einem glänzenden Gold, das die Gier und den Neid in den Augen der Besucher weckte. Auf silbernen Sockeln, die einen gewachsenen Mann um einen Kopf überragte, waren Glaskugeln angebracht, die alle ein hellblaues Licht enthielten. Es schwebte in den Gebilden, tauchte die Halle in ein lebhaftes Wechselspiel von Licht und Schatten und brach sich an den goldenen Wänden, nur um wieder zurückgeworfen zu werden.
    Kyrill kniff die Augen zusammen, während er versuchte etwas in dem dämmrigen Licht zu erkennen.
    „Es ist niemand hier", flüsterte Joy nach einigen Augenblicken. Erstaunt sah er sie an, wobei sein Blick an den angespannt aufgerichteten Ohren Joys hängen blieb.
    „Kannst du... Bist du dir sicher?"
    „Ja... Schließlich wurden meine Sinne auch verwandelt", erklärte sie beschämt.
    „Dann wird das gleich um einiges angenehmer. Deine Form gefällt mir immer besser", meinte Kyrill mit einem amüsierten Unterton und zog Joy weiter, die ihm einen empörten Blick in den Hinterkopf jagte. Doch sie schwieg und folgte ihm mit lautlosen Schritten quer durch die riesige Halle. Da entdeckte sie auch Kyrills Ziel. Gegenüber von dem Eingangstor, im hinteren Ende der Halle, stand eine Art Thron. Er war ebenfalls völlig aus Gold und mit Ornamenten verziert, die unwillkürlich Joys Aufmerksamkeit einfingen. Erst als sie ihn passiert hatten, entdeckte sie den Gang, der sich direkt hinter dem Thron befand und von zwei breiten Säulen begrenzt wurde. Zuerst wunderte sie sich. Im Verhältnis zum Rest der Halle gesehen, war er winzig. Sowohl von der Höhe, als auch von der Breite. Doch sobald ihr Blick auf die Ausschmückung fiel, weiteten sich ihre Augen vor Staunen. Die Wände waren förmlich gepflastert mit Kunstwerken aller Art. Staturen, Waffen, Gemälde, sogar Photographien, Vasen, faustgroße Juwelen und Vitrinen mit alten Büchern in kostbaren Einbänden zogen an ihnen vorbei, während sie weiter durch den Gang rannten. Nach ein paar Minuten, in denen Joy das Gefühl entwickelte, dass die Schätze immer wertvoller wurden je weiter sie in den Palast eindrangen, erreichten sie schließlich einen weiteren Raum.
    Es war ein runder Raum, mit der Höhe der letzten Halle, der von vier Säulen, die in der Mitte, in einem Rechteck angeordnet, die Decke trugen. Hinter den Zwischenräumen von jeweils zwei Säulen, befand sich ein weiterer Flur. Kyrill verlangsamte seine Schritte und blieb in der Mitte des Raums stehen. Mit gerunzelter Stirn sah er sich um.
    „Das gefällt mir nicht", erklärte er schließlich.
    „Warum? Wir haben doch Glück. Niemand ist hier!"
    „Genau da liegt das Problem. Warum sind nirgends Wachen im Inneren des Palasts? Es kann doch nicht sein, dass der König nur eine einzige Wache am Eingang positioniert hat."
    „Vielleicht fühlt er sich hier so sicher, dass er nicht glaubt, dass es notwendig ist?", murmelte Joy nervös, während sie ihren Blick über die verschiedenen Gänge gleiten ließ.
    „Ich hoffe es...", erwiderte Kyrill und setzte sich wieder in Bewegung. Er ging weiter geradeaus und betrat den Gang gegenüber jenem, durch den sie in den Kreisraum gekommen waren. Dieser war der einzige, der einen goldenen Torbogen besaß.
    Nach wenigen ereignislosen Minuten standen kamen sie in einen weiteren Raum. Goldene Säule trugen die mit Edelsteinen verzierte Decke und lenkten ihre Blicke auf die gegenüberliegende Doppeltür, die die Ausmaße eines Elefanten hatte. Auf beiden Türen war in Gold das übergroße Ebenbild eines brüllenden Löwen mit edelsteinbesetzter Mähne eingraviert, wobei jedes Haar einzeln mit akribischer Genauigkeit dargestellt wurde.
    „Ist es das?", fragte Joy leise. Kyrill nickte langsam.
    „Ich glaube schon... Kannst du zufällig irgendwas hören?"
    Ruckartig richteten sich Joys Ohren zur Tür aus. Angestrengt runzelte sie die Stirn und meinte schließlich:
    „Ich glaub da ist jemand drin. Zumindest glaub ich regelmäßige Atemgeräusche zu hören."
    „Dann ist es wahrscheinlich das Zimmer... Und noch immer keine Wache. Das mag mir nicht gefallen", Kyrill schwieg einen Moment, atmete einmal tief ein und befahl:
    „Bleib hinter mir. Ich glaub wir wurden bereits entdeckt."
    Sofort klemmte sich Joys Schwanz zwischen ihre Beine, während sie mit angelegten Ohren gehorchte und sich ein paar Schritte von Kyrill entfernte. Dieser schloss die Augen und murmelte:
    „Schütze!"
    Dabei wischte er mit seiner Hand von links nach rechts durch die Luft. Aus seiner Handfläche quoll währenddessen ein schwarzer Dampf, der sich zu einer wabernden Wand ausbreitete. Dann zog er mit einem Finger einen Kreis, schickte diesen zur Tür und befahl:
    „Öffne!"
    Beinahe geräuschlos glitt die Tür auf. Doch sobald sie den Blick auf den dahinter liegenden Raum freigab, ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen. Ein Feuersturm brach aus der Tür hervor und hämmerte gegen die schwarze Wand. Joy schrie und drückte sich die Hände auf die Ohren. Die wilden Spitzen von Kyrills Haare fingen an zu glühen, ein verbrannter Geruch erfüllte die Luft. Doch der Schutz hielt. Das Feuer erlosch und gab den Blick frei. Kyrill atmete erleichtert aus, konzentrierte sich aber direkt auf die Quelle des Feuersturms.
    Gegenüber der Tür saß ein Mann in goldener Rüstung auf der Kante eines Himmelsbetts. Den Rest des hell erleuchteten Raums blendete Kyrill aus.
    „Wie ich es vermutete hatte. Wir wurden tatsächlich entdeckt", meinte er ruhig. Darauf lachte der König schallend, wobei seine Rüstung laut schepperte.
    „Erstaunlich, erstaunlich, mein Freund. Das sind erstaunliche Instinkte", meinte er amüsiert,
    „Wann meinst du, seid ihr aufgeflogen?"
    „Wahrscheinlich, als ich den Soldaten am Tor ausgeschaltet habe."
    „Korrekt. Das Bewusstsein meiner Soldaten ist ein Teil von mir. Wenn eins davon ausgeschaltet wird, erfahre ich zwangsläufig davon."
    Kyrill schwieg und musterte den Mann genauer. Er hatte eine breite Statur, Haare, wie pures Gold und grell gelbe Augen, die ihn gierig fixierten. Währenddessen versteckte sich Joy wieder mit lautlosen Schritten hinter Kyrills Rücken. Sofort bemerkte der Mann sie, was ihn amüsiert lächeln ließ.
    „Arrogant wie eh und je... Es war ein Fehler uns nicht die anderen Wachen auf den Hals zu hetzen", erklärte Kyrill noch immer ruhig. Wieder lachte der Mann, stand auf und ging drei Schritte auf die Beiden zu.
    „Mein Fehler, sagst du?", er unterbrach sich mit schallendem Gelächter und fuhr dann fort:
    „Ihr habt den Fehler begangen. Allein für meine Unterhaltung habe ich euch bis hierher vordringen lassen. Ich bin Samoran, König des Wunschreichs und Besitzer der wünschenswertesten Schätze! Ihr..."
    Doch Kyrill seufzte nur leise und entspannte seine Muskeln. Seine Schultern sackten ab und sein Kopf neigte sich leicht nach vorne. Samorans Augen nahmen einen verachtenden Ausdruck an, während er in einem autoritären Ton sprach:
    „Anscheinend verstehst du eure Situation nicht. Sobald ihr euren ersten Schritt in diese Welt getan habt, wurdet ihr zu meinem Besitz. Und nun werde ich meinen Besitz einfordern. Entweder ihr übergebt mir eure Wünsche freiwillig und werdet zu einem meiner Untertanen, bis ihr euch würdig erwiesen habt in eure Welt zurückzukehren, oder ich werde euch sie hier und jetzt entreißen."
    Kyrill schloss die Augen, ein dunkler Schatten legte sich über sein Gesicht, Joys Krallen gruben sich in sein Hemd. Dann öffnete er sie wieder und meinte tonlos:
    „Du bist wirklich ein Trottel."
    Für einen Sekundenbruchteil legte sich eine knisternde Stille über den Raum. Dann trat eine Ader an Samorans Hals hervor. Er legte den Kopf einen Stück in den Nacken und sprach von oben herab:
    „Dein Wunsch ist es also als eine meiner leblosen Wächterpuppen zu enden. Fühle dich geehrt, zu wissen, dass dein Leben vom König einer ganzen Welt beendet wurde!" Mit diesen Worten streckte er seinen Arm aus. Auf Höhe seiner Hand stieß eine goldene Flamme in die Höhe, aus der ein überdimensionales Zweihandschwert erschien. Währenddessen murmelte Kyrill:
    „Genau das meine ich."
    Dann wandte er sich durch eine leichte Kopfdrehung zu Joy und befahl:
    „Bewege dich keinen Schritt von der Stelle."
    Joy nickte nur schwach und drückte sich an seinen Rücken. Dann ertönte das Gescheppere der Rüstung, worauf Kyrill seinen Blick wieder nach vorne richtete. Samoran hatte die Klinge mit beiden Händen gepackt, rannte auf ihn zu und verursachte bei jedem Schritt eine Stichflamme, an der Stelle, wo seine Stiefel den Boden berührten. Mit einer übermenschlichen Geschwindigkeit überbrückte er die Distanz zwischen sich und Kyrill, der wie angewurzelt stehen blieb. Lediglich seine Augen waren in Bewegung, die jede Bewegung seines Gegners registrierten. Dann hatte Samoran ihn erreicht. Aus seinem Sprint heraus ließ er einen Fuß nach vorne gleiten und nutzte den Schwung, um die gigantische Klinge auf Kyrills Oberkörper zu schnellen zu lassen. Im letzten Moment brachte Kyrill seine offene Handfläche in die Schwungbahn des Schwerts und murmelte:
    „Stopp!"
    Sofort umschloss schwarzer Dampf seine Hand und sobald die Klinge diesen berührte, verlor sie ihre komplette Geschwindigkeit. Samorans Augen weiteten sich. Er öffnete seinen Mund, doch da hatte Kyrill bereits reagiert. Seine andere Hand hüllte sich in eine schwarze Nebelwolke und schnellte hervor. Er packte Samorans Gesicht und sagte:
    „Qual."
    Sofort schrie Samoran auf. Seine Knie gaben unter ihm nach und das Schwert fiel mit einem lauten Scheppern auf den Boden. Kalt beobachte Kyrill, wie Samorans Kraft unter den Schmerzen schwand und er vor ihm auf die Knie ging. Grob packte er Samorans Kinn und hob sein Gesicht, um ihn in die Augen sehen zu können.
    „Deswegen bist du ein Trottel. Gegen eine Armee gefühlloser Rüstungen hätte mir diese Kraft nicht viel gebracht", erklärte Kyrill tonlos.
    „Bastard... Warum besitzt du diese Kraft? Ich sollte es sein, der alles in dieser Welt sein Eigenen nennen darf! Ich besitze die Macht dieser Welt!"
    „Du solltest froh sein, lieber Herr König. Jener, der deine Macht überkommt, hat nur Interesse daran wieder zurück in seine alte Welt zu gelangen. Tod nützt du mir nicht. Also bring uns zurück und du darfst leben." Dann schwieg Kyrill und betrachtete ausdruckslos Samorans Gesicht.
    „Ach und falls du auf die Idee kommen solltest, deine Truppen zu rufen, darfst du dich von deinem Leben verabschieden. Vom Prinzip der Geschichte her, muss es eine Möglichkeit geben aus dieser Welt zu fliehen. Das heißt, stirbst du, wird die Fähigkeit, die dazu nötig ist, wahrscheinlich an deinen Nachfolger weitergegeben. Irgendwie so etwas muss es geben. Also mach keine Faxen."
    „Du bist ein Monster!", fluchte der König kraftlos.
    „Und du bist hilflos. Willst du wirklich weiter leiden?"
    Samoran starrte Kyrill wie ein in die Ecke gedrängtes Tier an.
    „Du hast gewonnen...", ächzte er schließlich. Kyrill nickte ausdruckslos und entfernte die Hand von seinem Gesicht. Sofort entspannte sich der Körper des Königs und er atmete erleichtert aus.
    „Dann öffne das Portal. Meine Geduld ist begrenzt!", befahl Kyrill, worauf er einen mörderischen Blick Samorans erntete. Dann stand dieser wacklig auf und formte mit seinen Handflächen eine Kugel. Eine silberne Flamme entzündete sich im Hohlraum. Zuerst war sie nur klein, wuchs dann aber und wanderte aus der Kugel seiner Handflächen heraus. Etwa einen Meter vor ihm blieb sie stehen und nahm dort innerhalb weniger Sekunden ähnliche Ausmaße an, wie die Doppeltür der Königsgemächer. Dann wuchs sie nicht mehr weiter und die Flammen schienen sich zu stabilisieren. Es bildete sich ein brennender Torbogen heraus, dessen Inneres eine glatte Oberfläche aus silbernem Licht war.
    „Damit kommt ihr zurück zur Welt der Schwellengöttin. Sie wird euch dann den weiteren Weg weisen", knurrte Samoran. Darauf formte Kyrill mit dem schwarzen Nebel ein abstraktes Symbol, das aus mehreren Kreisen und einem Pentagramm bestand. Dann deutete er auf den Hals von Samoran und das Symbol verschwand, nur um im nächsten Augenblick unter dessen Haut wieder aufzutauchen.
    „Solltest du uns verarscht haben, wird dir dieser kleine Fluch den Kehlkopf und die Halswirbel zertrümmern. Also solltest du es dir lieber zweimal überlegen, ob du uns in irgendeine Falle locken willst", erklärte Kyrill.
    Zuerst starrte der König ihn nur wütend an. Doch dann fingen seine Kiefer an zu mahlen und die Flammen wechselten schlagartig ihre Farbe zu einem einheitlichen Gold. Dann wandte sich Kyrill an Joy und nahm ihre Hand. Zusammen traten sie vor das Flammentor.
    „Ist das wirklich der richtige Weg?", fragte Joy kleinlaut, während sie ängstlich zu Kyrill hoch sah.
    „Sollte er es nicht sein, wird hier jemand sein Leben verlieren", erklärte Kyrill ruhig und warf Samoran einen entschlossenen Blick zu. Dieser war mittlerweile aufgestanden und sah Kyrill mit mörderischer Wut an.
    „Ich weiß nicht, wer du bist, aber glaub nicht, dass das letzte Wort gesprochen ist. In dieser Welt werden Wünsche wahr und ich bin derjenige, der sie alle besitzt. Mein Besitz ist größer, als sich ein einfacher Mensch vorstellen kann. Er macht mich zu einem Gott. Und du weißt es. Irgendwann wirst du wiederkommen, weil du einen dieser Wünsche besitzen willst. Und dann werde ich meinen Tribut einfordern. Deine Macht, woher auch immer sie kommen mag, wird mir gehören!"
    Unbeeindruckt warf Kyrill ihm einen letzten Blick zu. Dann drückte er Joy an sich und ging mit ihr zusammen durch das Tor.

  • Kapitel 9 – Rückkehr


    Das Licht umschloss Joy innerhalb weniger Sekunden. Mit beiden Händen klammerte sie sich Kyrill und spähte mit suchendem Blick umher. Das Portal schloss sich hinter ihnen und im nächsten Moment fingen sie an zu schweben.
    „Ich hasse diesen Ort", flüsterte Joy ängstlich und legte die Ohren an.
    „Keine Sorge. Dieses Mal bist du schließlich nicht alleine", erwiderte Kyrill und strich ihr zärtlich über den Kopf. Sie schaute auf und suchte seinen Blick. Ein zaghaftes Lächeln schlich sich in ihr Gesicht, als sie entdeckte, dass sich der Schatten über Kyrills Augen verzogen hatte.
    „Ihr habt es tatsächlich geschafft... Ihr seid die ersten, die mit ihren Wünschen diese Welt verlassen", erklärte jene kalte Stimme ohne Körper. Joy zuckte zusammen und drückte sich instinktiv fester an Kyrill. Dieser erwiderte grinsend:
    „Dank deiner Kooperation."
    Die Stimme schnaubte, worauf sich Lichtpartikel aus dem Lichtmeer herauslösten und sich in Sekundenschnelle vor den beiden zum Körper der Schwellengöttin verdichteten. Instinktiv fauchte Joy, doch die gesichtslose Frau ignorierte sie und näherte sich Kyrill mit stolzen Schritten, bis sie weniger als einen Fuß von ihm entfernt war. Ihren Kopf musste sie leicht in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können.
    „Ich hab dich beobachtet", erklärte sie.
    „Das war zu erwarten. Und hast du herausgefunden, was du erfahren wolltest?", fragte Kyrill, während er freundlich lächelte. Zuerst schwieg sie. Joys Ohren richteten sich langsam wieder auf und ihre eingeklemmte Schwanzspitze löste sich langsam.
    „Ich glaube schon. Du hast mich... reingelegt"
    „Reingelegt?", unterbrach sie Kyrill. Sein Grinsen wurde breiter, während ein Mundwinkel leicht, kaum merklich, zuckte. Joy bemerkte es, runzelte die Stirn und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
    „Das bezeichnest du als reinlegen?", fragte Kyrill mit unverändertem Ausdruck.
    „W-was soll das sonst gewesen sein?!", brauste die Göttin auf. Dabei leuchtete ihr Körper aus Licht einmal besonders hell auf und schärfte seine Konturen, indem er eine schwache, rote Färbung annahm.
    „Das weißt du ganz genau. Immerhin hast du mir deswegen den Wunsch erfüllt", flötete Kyrill noch immer grinsend zurück. Die Göttin stemmte ihre Hände in die Hüfte und schwieg. In dem Moment meinte Joy zwei Augenformen in dem sonst ebenen Gesicht erkennen zu können. Dann meinte die Göttin:
    „Wie auch immer...", ihre Stimme wurde wieder kräftiger und lauter, „Es gibt nur eine Person, die mich zu solch einer Tat hätte bringen können. Ebenso wie es nur eine Person gibt, die mit Samoran so hätte umspringen können..." Wieder verstummte sie und wartete auf eine Reaktion von Kyrill. Dieser kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und meinte schließlich:
    „Das habe ich schon fast erwartet. Von den Figuren, warst du die einzige, die es hätte herausfinden können... Also, wer bin ich?"
    „Der Gott, dem ich meine Existenz verdanke. Der Herrscher, der meinem Leben einen Sinn und eine Aufgabe gegeben hat. Der Schöpfer der Schwellenwelt und der Erbauer der jenseitigen Welt. Du bist der Autor der Geschichte, dessen Worte uns in die Realität geholt haben."
    Joys Kinnlade klappte herunter, während ihr Blick zu Kyrill hoch schoss. Dieser lachte verhalten und erwiderte:
    „Da wurde ich wohl ertappt. Ich bin froh, dass ich dich mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet habe."
    Die Göttin schwieg und starrte ihren eigenen Gott mit dem Namen Kyrill an. Das Schweigen wurde erst gebrochen, als Kyrill Joys Krallen in seiner Seite spürte. Sie biss sich auf die zitternde Unterlippe und starrte ihn mit Tränen in den Augenwinkeln an, während sich ihre Krallenspitzen immer weiter durch Kyrills Kleidung bohrten. Die Freude in seinem Lächeln gefror. Er wandte sich wieder an die Schwellengöttin und bat:
    „Da du ja nun weißt wer ich bin, hast du bestimmt auch kein Problem damit uns wieder in unsere eigene Welt zu leiten, oder?"
    „Selbst wenn ich es nicht wollen würde, hätte ich keine Wahl. Dein Wort ist meine Handlung", erwiderte die Göttin resignierend. Sofort öffnete sich neben ihr ein Portal. Joys Körper wurde von einem gierigen Sog ergriffen. Protestierend krallte sie sich an ihm fest und rief flehend:
    „Verwandle mich vorher zurück! Ich will nicht diesen Körper behalten!"
    Doch der Sog wurde immer stärker und zog sie aus dem Lichtraum heraus. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie drohte ihr Bewusstsein zu verlieren, aber dann öffnete sich vor ihnen ein weiteres Portal.


    Die unsanfte Landung auf der feuchten Wiese quittierte Joy mit einem erschrockenen Schrei. Kyrills Ächzen ertönte unter ihr. Als sie ihre Augen aufschlug, fand sie sich auf der Wiese hinter der Schaukel des heruntergekommen Spielplatzes wieder. Unter ihr lag Kyrill, der sich mit zusammengekniffenen Augen eine Beule am Hinterkopf rieb. Zuerst entglitten Joy erleichtert ihre Gesichtszüge. Als Kyrill dann seine Augen öffnete und sie ansah, wandelte sich ihr Ausdruck. Ein Paar Tränen trat in ihre Augenwinkel und ein klägliches Miauen entglitt ihr.
    „Joy, alles in Ordnung?", fragte Kyrill sofort und musterte sie eingehend. Doch anstatt ihm eine Antwort zu geben, krallten sich ihre Finger in seine Brust.
    „Joy...?", murmelte er zögernd, als würde er die Gefahr erahnen. Schließlich fauchte Joy wütend und biss Kyrill in die Schulter. Ihre spitzen Zähne bohrten sich ohne Probleme in sein Fleisch. Erschrocken versuchte er sie von sich zu drücken. Sein Widerstand führte jedoch nur dazu, dass sie sich noch fester an ihn klammerte und ihm die gesamte Brust mitsamt seiner Kleidung zerkratzte.
    „Es tut mir leid! Aber ich hatte dir doch gesagt, dass du warten sollst!", versuchte er sich zu rechtfertigen, während er verzweifelt versuchte sich ihrer Zähne und Krallen zu entziehen. Joy hörte nicht auf ihn. Erst als er ihre Arme zu packen bekommen und sie auf den Rücken gedreht hatte, wo er sie schwer atmend festhielt, schaffte er es sie aus ihrem Rausch zu holen. Kyrill ignorierte die knurrenden Geräusche, die aus den tiefen ihres Brustkorbs drangen und meinte ruhig:
    „Beruhige dich! Es wird dir nicht helfen mich zu zerfleischen!"
    „Das sagst du so leicht! Wie soll ich mich denn bitte beruhigen?! Verdammt noch mal, wegen dir bin ich zu einer halben Katze geworden! Wie bei allen guten Geistern, soll ich damit umgehen?", erwiderte Joy bissig, wobei ihre Heftigkeit immer weiter abnahm. Zuerst hatte sie noch gefaucht, doch am Ende war ihre Stimme nicht mehr viel mehr als ein kraftloses Schluchzen. Kyrill seufzte und gab ihre Arme frei.
    „Ich hatte dir nicht umsonst gesagt, dass du mir nicht folgen sollst..."
    Sofort fauchte Joy und sah ihn mit feuchten Augen strafend an. Beschwichtigend hob Kyrill die Hände, stand auf, zog seinen Mantel aus und gab ihn an Joy weiter.
    „Jedenfalls hast du recht. Mit diesem neuen Körper sollten wir dich nicht auf die Öffentlichkeit loslassen. Wer weiß, was man mit dir anstellen würde, wenn die falschen Leute davon Wind bekommen."
    Joy war mittlerweile unter den Mantel geschlüpft, hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen und sah Kyrill hilflos an.
    „Sieh mich nicht so an... Es ist zwar eine doofe, aber keine hoffnungslose Situation. Schließlich bist nicht nur du verändert worden."
    „Meinst du, du kannst mich zurückverwandeln?", fragte sie, wobei sich ihre Ohren ruckartig aufrichteten und die Kapuze ein gutes Stück anhoben. Lächelnd drückte Kyrill sie wieder herunter und erwiderte:
    „Ich weiß es nicht. Aber ich bin zuversichtlich. Wenn ich es nicht rückgängig machen kann, muss ich es halt verbergen, bis wir einen Weg gefunden haben diesen Zauber aufzuheben. Aber vorher sollten wir dich erst einmal nach Hause bringen. Bevor dich jemand entdeckt."
    Joy nickte, nahm Kyrills Hand und ließ sich von ihm zurück zu ihrem Haus führen.