Deadline

  • Es war zehn Uhr morgens und der Hyde Park war nahezu überbevölkert. Trotz des Nieselregens! Doch was konnte man von Londons Aprilwetter schon erwarten?
    Bunte Kleider, alle der neuesten Frühlingsmode entsprechend, wurden von jungen Frauen mit aufgetürmten Haaren spazieren getragen. Natürlich durften auch die dazu passenden Schirmchen nicht fehlen! Eine Gruppe junger Dandys streifte lachend an mir vorbei und ich schnaubte verächtlich. Diese Menschen hatten keine Ahnung davon, was es hieß für seine Existenz kämpfen zu müssen. Für die bestand das Leben doch nur aus dem, was ihre Eltern für sie bestimmten. Sie liefen nie Gefahr eine falsche Entscheidung zu treffen, oder überhaupt eine treffen zu müssen. Dieses Schaulaufen hier war vielleicht das Anstrengendste, was sie am Tag vollbringen mussten.


    Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich so dasaß und die Leute beobachtete, doch irgendwann merkte ich, wie sich jemand zu mir auf die Bank setzte und mich aus meinen Gedanken riss.
    „Was gibt’s George?“ fragte ich, den Blick immer noch auf das bunte Treiben vor mir gerichtet.
    „Seit wann treibst du dich im Hyde Park rum? Ich dachte du meintest mal, dass du Orte, an denen viele Menschen sind nicht magst.“ antwortete dieser und neigte fragend seinen strohblonden Kopf.
    „Tja, man sollte immer mal was neues probieren... Außerdem dachte ich, dass die feinen Damen bei dem Wetter lieber in ihrem warmen Zuhause bleiben.“
    „Oh nein Alicia, es wäre doch fatal, wenn die Herrschaften mal nicht zeigen, was sie haben!“ rief er übertrieben empört aus, woraufhin sich zwei Frauen in der Nähe entsetzt zu uns umdrehten und dann schnell das Weite suchten. Ich musste lachen, wir beide waren schon entsetzlich ungehobelt.
    „Es wurde übrigens wieder nach dir gefragt“, sagte George jetzt in einem ernsteren Tonfall. Ich zog die Augenbrauen hoch.
    „Wurde auch langsam mal wieder Zeit! Ich muss die Miete zahlen.“ Er drückte mir einen Zettel in die Hand, auf dem Adresse und Name des Kunden vermerkt waren.
    „Wann soll ich da sein?“
    „Heute Abend, so gegen achtzehn Uhr.“ Dabei zog er seine Taschenuhr hervor. Diese Uhr war sein wertvollster Besitz, trotz der Rostflecke, die schon auf ihr waren, seit er sie gefunden hatte, hegte er sie wie seinen Augapfel. „Oh, ich muss jetzt auch wieder los, sonst komme ich zu spät zur Arbeit!“
    „Viel Spaß, George“, sagte ich und wir beide standen gleichzeitig auf.
    "Wir sehen uns!" Und schon war er den Weg hinunter geeilt. Ich sah ihm noch eine Weile hinterher und ging dann in die andere Richtung davon. Er arbeitete als Koch für eine mehr oder weniger wohlhabende Familie und aus Erfahrung konnte ich sagen, dass seine Kochkünste großartig waren. Der Gedanke an Georges Essen ließ meinen Magen knurren und nach einem kurzen Blick auf meine eigene Taschenuhr beschloss ich mich auf den Weg zum Lunch zu machen.

  • Meine Wahl fiel auf eine Spelunke, um die die meisten Menschen wohl einen großen Bogen gemacht hätten, doch ich fühlte mich in Cracker’s Barrel einfach zuhause. Ich ging eine Straße entlang, auf der man kaum jemanden sah. Erst gegen Abend, wenn die Fabrikarbeiter Feierabend hatten würde es sich hier füllen. Auf einem alten Holzschild neben dem engen Kelleraufgang zum Pub waren die Worte "Cracker's Barrel" geschrieben und ein mittlerweile nicht mehr so gut erkennbarer Bierkrug war da drunter abgebildet. Schnellen Schrittes ging ich die schmale Treppe hinunter und öffnete die blau gestrichene Tür. Irgendwann war sie mal rot gewesen, wie man unter der abblätternden Farbe unschwer erkennen konnte. Quietschend schloss sie sich hinter mir und ich befand mich nun in einem düsteren Raum, die winzigen Fenster ließen nur wenig Licht hinein, was wahrscheinlich auch daran lag, dass sie dringend mal wieder geputzt werden mussten! Nur die verstaubten Gaslampen, die überall hingen, erhellten den Raum ein wenig. Am Ende des Raumes stand eine Theke, die eigentlich nur aus ein paar Fässern und einer großen Holzplatte bestand, hinter welcher ein riesiger Kerl mit dem Rücken zu mir stand und Gläser polierte. Ich setzte mich auf einen Barhocker und lehnte mich auf die Theke.
    „Hallo Cracker, ganz allein heute?“ Sprach ich den Hünen jetzt an. Dieser drehte sich um und grinste mich an. Sein kahler Kopf und seine Arme waren von Narben übersäht und ihm fehlten einige Finger. Das alles waren Überbleibsel des Afghanistan Krieges, in dem er mitgekämpft hatte. Diesen Pub hatte er schon kurz nach seiner Rückkehr eröffnet und mehr wusste ich nicht über ihn. Er hatte nie gerne über sich selbst oder seine Vergangenheit gesprochen.
    „Du bist mein erster Besuch heute kleine Hexe. Was treibt dich her?“ Cracker hatte mir diesen Spitznamen wegen meiner roten Haare und meinen grünen Augen gegeben und er war auch der einzige, der mich so nennen durfte!
    „Lust auf deine fantastischen Sandwiches natürlich!“
    „Da kommst du aber gelegen, ich wollte gerade welche machen.“ Ohne, dass ich etwas sagen musste stellte er mir ein Glas Limonade hin und verschwand dann nach nebenan in die Küche.
    "Und wo hast du dich heute rumgetrieben?" Rief er durch die offene Küchentür.
    "Hyde Park, Papageien beobachten." Er lachte und irgendwas schepperte laut, warscheinlich war ein Topf runtergefallen.
    "Du könntest auch mal ein bisschen mehr Farbe bekennen." Ich sah an mir herunter. Was war den an einem dunkelbraunen Kleid auszusetzen?
    "Mir gefällt braun, außerdem kann ich mein Geld für sinnvolleres ausgeben, Essen zum Beispiel!"
    "Ach du willst mich bezahlen? Das finde ich aber nett." Gab Cracker zurück und lachte schallend.



    Die Tür ging quietschend auf und mit einem lauten „Mahlzeit!“ kam meine beste Freundin Catrina herein. Eigentlich war sie ein sehr hübsches Mädchen, doch sie benahm sich nicht nur wie ein Kerl, sondern zog sich auch so an. Die Haare kurz geschnitten und immer in Hosen. Das letzte mal, als ich sie in einem Kleid gesehen hatte waren wir noch kleine Kinder gewesen!
    „Hey Cracker! Du musst mal deine Fenster putzen!“ Rief sie sofort, nachdem die Tür wieder zu war und setzte sich neben mich. "Na Sommersprosse, alles klar?" Fragte sie jetzt an mich gewand und bediente sich an meinem Getränk.
    „Freut mich auch dich zu sehen Cat, Sandwich?“ Fragte Cracker, der gerade mit einem großen Teller in der Hand wieder hereinkam und ihn auf der Theke abstellte.
    „Da fragst du noch?“ Gab sie zurück und nahm sich eins. „Übrigens Alicia, es wurde mal wieder nach dir gefragt.“ Meinte Cat jetzt zu mir und biss herzhaft in ihre Schnitte.
    „Ich weiß, achtzehn Uhr in der Regent Street. George hatte mich vorhin schon gefunden.“ Gab ich zurück und begann ebenfalls zu essen.


    Einige Sandwiches später räumte Cracker den Teller wieder weg und schenkte Getränke nach.
    "Heute morgen wurde schon wieder eine Leiche gefunden." Meinte Catrina jetzt.
    "So wie die letzten?" Fragte ich und Cat nickte.
    "Das ist dann schon die sechste in den letzten zwei Wochen!" Meinte Cracker. Scotland Yard hatte in den letzten Wochen sechs nahezu identische Leichen gefunden. Ihnen allen fehlte die linke Hand und beide Augen. Getötete wurdfen sie durch einen einzelnene Stich direkt ins Herz. Die Polizei tappte vollkommen im Dunkeln.
    Wir redeten noch eine Weile weiter über dieses und jenes, tranken und lachten, doch so viel Spaß ich auch hatte, irgendwann wurde es leider Zeit für mich zu gehen, denn bis nach Soho war es ein ganzes Stück zu laufen und eine Droschke konnte ich mir beim besten Willen nicht mieten. Dafür war ich zu geizig. Ich verabschiedete mich von den Beiden und machte mich auf den Weg.